In dem freilich unkritischen Bericht des WDR, »Ehe nach den Regeln der Thora«, wird ein Einblick gegeben, wie jüdisch-orthodoxe Ehen zustande kommen und geführt werden. Dabei fällt auf, dass einerseits strenge überkommene Regeln herrschen, andererseits dies sehr weltliche Karrieren wie die der im Mittelpunkt stehenden Ehefrau nicht ausschließt. Wenn man dem Bericht Glauben schenken darf, haben die nach der Tradition schon in frühem Alter von den Eltern vermittelten Ehen eine gewisse Stabilität.
Ich stelle freilich in Rechnung, dass der Beitrag möglicherweise kein repräsentatives Bild zeichnet. Andere Beiträge sind da schon wesentlich »kritischer«. So kommt das gar nicht so kleine Problem des sexuellen Missbrauches in orthodoxen Gemeinden und Familien in dem WDR-Bericht gar nicht vor. Eine hohe Dunkelziffer an sexuellem Missbrauch durch Familienangehörige, Gemeindemitglieder und Rabbiner kommt erst nach und nach zur Sprache, denn er blieb in den Gemeinden lange ein Tabu. An diesem Problem zeigt sich, dass die äußerliche Tradition sich ins Gegenteil verkehren kann, indem sie im Ergebnis statt seelischer Reinheit die Fassade als letzten Wert bestimmt.
Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den orientalischen Offenbarungsreligionen und dem Geist der europäischen Völker, auch wenn der fremde Glaube an das Wort vor einem Jahrtausend in Europa mit den Lebensgeistern auch den Geist des Lebens gewaltsam verdrängte – nicht ganz, nur im Etikett, denn in der Lebenswirklichkeit, dem Brauchtum, blieb der alte Geist bis auf den heutigen Tag erhalten. Jener Geist beruht nicht auf geschriebenem Wort und kannte es lange Zeit nicht einmal, sondern auf der unmittelbaren Geistes-, Lebens- und Seelenerfahrung, dem Band der Gemeinschaft der Menschen mit der Natur.
„Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen, (…).”
»Goethe, Faust I.«
Da ist sie wieder, die faustische Gretchenfrage: Wie halten wir es mit der Religion? Wie können wir den Glauben der Orientalen an das Wort in unsere Sprache übersetzen? Sollten wir das überhaupt?
Jenes exotische Leben der Chassidim, der aschkenasisch-orthodoxen Juden, sei es nun orientalisch oder chasarisch, mutet in deutschen Augen fremd an. Gerade diese Fremde hat neben gewiss einigen anderen Dingen in der Vergangenheit viel zum Misstrauen beigetragen. Um eine Erkenntnis, finde ich, kommt man jedoch beim Betrachten dieses Traditionalismus generell, nicht nur bezogen auf die Ehe, nicht herum: Er sorgt für den Fortbestand jener Kultur. Die Regeln der Altvorderen bleiben lebendig und werden an die nächste Generation vermittelt. Die hohe Kinderrate sorgt dafür, dass sich gerade die Gruppe der Orthodoxen immer weiter vergrößert. Damit erweist sich die Orthodoxie nicht etwa als veraltet, sondern als im wahrsten Sinne verjüngt. Nicht ohne Berechtigung sind Angehörige des jüdischen Volkes stolz darauf, trotz ihrer Zersplitterung allein des Beharrens auf ihrer Tradition wegen Jahrhunderte überlebt zu haben. Und in all dem unterscheidet sich das Judentum fundamental von uns Europäern, die wir sittlich herabgesunken und im Begriff sind, auszusterben.
Was können wir daraus lernen? Sicherlich passt es nicht zum “germanischen Geist der Freiheit“ (Hegel), nun etwa orthodoxe Lebensweisen an den Tag zu legen, schon gar nicht, wenn diese aus dem Orient oder Galizien stammen. Die ewige Wahrheit, dass der Mensch als ein gemeinschaftliches Wesen zu seinem Glück den Fortbestand seiner Gemeinschaft benötigt, zwingt aber zu dem Bewusstsein, diese Gemeinschaft wachzuhalten und damit auch die eigene Lebensweise. Nur wenn die eigene Lebensweise eine spezifische ist, kann sie sich definieren, also in der Welt abgrenzen und behaupten. Dann verliert sich die Existenz des Einzelnen und seinesgleichen nicht in einer Welt der Beliebigkeit, die letztlich von wirklichen Gemeinschaften verdrängt wird.
Das Überleben der eigenen Kultur setzt immer die Verinnerlichung voraus und diese die Innerlichkeit, die Geisteskraft, die Spiritualität. Es ist darum kein Zufall, dass die kulturelle und staatliche Überlieferung des Judentums im Gewande einer Religion die Jahrhunderte überdauerte. Die letzte Rückanbindung, welche eine Religion dem Wortsinne nach ist, ist immer die geistige Wurzel. Im Frieden unserer Seele liegt der Friede unserer Gemeinschaft, ihre Einheit und ihr Überleben.