Deutschland liebt seine selbsterklärte politische Mitte wie andere ihr Abendgebet. Kaum ein Politiker, der sich nicht stolz in den moralischen Vorgarten der angeblichen Vernunft stellt. Die FDP plakatierte schon 1961 „Ein gesundes Volk braucht eine gesunde Mitte“, Schröder wollte 2002 „Kanzler der Mitte“ sein und Scholz tat es ihm gleich.


»Merkel erklärte die CDU gleich ganz zur Mitte«, und »Habeck erhob die Grünen« ebenfalls in diesen Bereich. Die politischen Etiketten wechselten, das Bedürfnis nach moralischer Selbstvergewisserung blieb. Die Mitte ist in Deutschland nicht mehr bloß eine Lagebeschreibung, sie ist zu einer Religion mit Dogmen geworden, mit Bekenntniszwang und Häresieverdacht für jeden, der von dieser Linie abweicht. Dabei wird diese vermeintliche Mitte längst von jenen beansprucht, die in Wahrheit weit links stehen und ihre Position durch moralische Überhöhung als allgemeinen Maßstab ausgeben.
Der Test, der das Denken sortiert
Nun veröffentlicht »DIE ZEIT« also einen politischen Selbsttest, der vorgibt zu zeigen, „wo man steht“. Er besteht aus dreizehn harmlos verpackten Fragen, doch der Mechanismus dahinter verrät mehr über das Denken der Macher als über das der Teilnehmer. Wer findet, dass Reiche mehr Steuern zahlen sollten, rutscht Richtung links. Wer der Meinung ist, Bürgergeld müsse sinken, steht rechts. Wer glaubt, Zuwanderung müsse begrenzt und Einwanderer sollten sich anpassen, landet verdächtig nahe beim Rand. Wer Gendersternchen ablehnt oder staatliche Gleichstellungspolitik für übertrieben hält, ist schon auf dem Schleudersitz aus der angeblichen Vernunftzone hinaus.
Ich bin für weniger Steuern, Klima und Sozialabgaben, gegen eine unkontrollierte Asylpolitik, Gendersprache finde ich absolut Gaga und ich finde der Staat sollte sich weitestgehend aus dem Markt heraushalten.
— Janine Beicht (@JanineBeicht) November 5, 2025
Meine doch recht vernünftigen Ansichten machen mich, laut der… pic.twitter.com/osFCeBP7dK
Dieses Testkonstrukt verkauft eine politische Vermessung des Landes, zu der 7000 repräsentativ Befragte herangezogen werden, aber in Wahrheit vermisst es nur die Spannweite der erlaubten Meinung. Es ist der pädagogische Zeigefinger des Zeitgeists, als Algorithmus verkleidet. Das Ergebnis: Wer den offiziellen Narrativen widerspricht, landet automatisch außerhalb der guten Gesellschaft – egal, ob er inhaltlich sozial denkt oder wirtschaftlich rational argumentiert.
Die Angst vor den Rändern
Seit 1945 gilt die politische Mitte als Bollwerk gegen das Böse, gegen Weimar, gegen Extreme, gegen alles, was nicht unter den Teppich des Konsenses passt. »Helmut Kohl sah« 1982 in der Mitte die Quelle der Erneuerung und die Garantie der Stabilität. Dies war die Geburtsstunde der Mitte als moralischer Schutzzone: Wer sich dort verortete, galt als anständig, vernünftig und natürlich auch demokratisch.
„Die Ideologien der Macher und Heilsbringer haben den Wirklichkeitssinn im Lande nicht geschärft, die Selbstverantwortung nicht gestärkt und die geistigen Herausforderungen der Zeit verkannt. Wir brauchen wieder die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes. Die Frage der Zukunft lautet nicht, wieviel mehr der Staat für seine Bürger tun kann. Die Frage der Zukunft lautet, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können. Auf dieser Idee gründet die Koalition der Mitte.“
»Helmut Kohl«
Doch diese einstige Stabilität der Mitte ist längst zur Stagnation verkommen. Mit Beginn ihrer Amtszeit führte Angela Merkel diese eher konservative Mitte der Vernunft ad absurdum. Sie pflanzte ihre aus der DDR-Zeit erlernten Glaubenssätze des Sozialismus in Partei und Land, verschob das Koordinatensystem nach links und machte damit die ideologische Entkernung der CDU salonfähig. »Unter ihr« wurde inhaltliche Beliebigkeit zur neuen Klarheit erklärt, und Millionen Menschen fühlten sich von dieser „neuen“ Partei nicht länger vertreten. So entstand die AfD. Aus der einst ausgleichenden Mitte wurde ein ideologischer Käfig: Jede neue Idee, jeder abweichende Gedanke wurde an den Rand gedrängt, bis der Rand überlief.
Die Angst vor den Rändern ist längst selbst zum Extrem geworden. Sie lähmt den Diskurs, ersetzt Argumente durch Abwehr und hält ein ganzes Land im Würgegriff der vermeintlichen Mitte.
Die weichgespülte Mehrheit
Die neue deutsche Mitte hat ein „gutmenschliches“ Gesicht. Sie predigt Toleranz, obwohl sie nur Einheitsdenken duldet. Sie spricht von Vielfalt, meint aber Uniformität. Sie ist das freundliche Lächeln der Meinungsdisziplin. Die alte „Volksgemeinschaft“ war brutal, die Neue kommt wohlwollend, menschlich und solidarisch daher, ist allerdings nicht weniger gefährlich. Damals hieß es: Wer dazugehört, hat Recht. Heute heißt es: Nur wer in der Mitte oder links steht, ist tatsächlich demokratisch. Beides folgt derselben Logik. Der Anschlussmechanismus ist nur höflicher verpackt, während der Ausschluss mit inflationären Abschiebungen in die „rechtsradikale Ecke“ einhergeht, wie es auch der Test zeigt.
Die selbsternannte neue Mitte taumelt zwischen Überheblichkeit und Selbstmitleid. Sie hält sich für das Rückgrat der Demokratie, ist aber längst deren müder Muskel geworden. Ihre moralische Selbstgewissheit schützt sie nicht vor geistiger Trägheit. Studien sprechen von der „fragilen“, der „gespaltenen“ oder der „distanzierten Mitte“. Man könnte auch sagen: die desorientierte Mitte. Denn was bleibt, wenn Maß und Mitte zur Mode werden? Eine Gesellschaft, die nicht mehr selbstständig denkt, sondern nur noch abwägt, ob das Denken erlaubt ist.
Der Begriff „Mitte“ hat sich somit politisch entleert. Er steht für das Mehrheitsgefühl und nicht mehr für Vernunft. Die Mitte ist, wo viele sind, nicht dort, wo der rationale Gedanke herrscht. So wurde der Begriff und die politische Richtung zur Einflugschneise für Populismus und linke Narrative. Sie ist die Wellness-Oase der politischen Selbstvergewisserung, wo man sich von Widerspruch nicht stören lässt, sondern ihn als „extrem“ abstempelt. Ihr Feindbild ist nicht mehr der Radikale, es ist der Unbequeme. Derjenige, der Fragen stellt, wo man längst Antworten zementiert hat.
Viele, die diesen Test gemacht haben, haben die Irreführung sofort durchschaut.
Die politische Mitte aus der Sichtweise der @zeitonline – folgen Sie bitte dem Pfeil nach links. https://t.co/7RpbnXDDZd pic.twitter.com/UKReBo9ITP
— spaceloop23 🗽 (@spaceloop23) November 5, 2025
Gesinnungstest statt Orientierung
Der Test zeigt, wie verschoben das Koordinatensystem inzwischen ist. Was vor zehn Jahren noch als vernünftige Skepsis gegenüber politischer Gleichmacherei galt, gilt heute als reaktionär. Wer den CO₂-Abgaben misstraut oder das Tempolimit ablehnt, steht plötzlich auf der „ganz rechten“ Seite. Die Grenze zwischen Meinung und Makel ist hauchdünn geworden. Es ist immer dasselbe Spiel: Wer das Fenster der erlaubten Meinung verengt, schiebt den Rest automatisch hinaus.
Der Test, der vorgibt, politische Selbstreflexion zu fördern, ist in Wahrheit ein Diagnoseinstrument der herrschenden Macht. Er misst nicht Haltungen, sondern Konformität. Seine Fragen zu Steuern, Sozialstaat, Migration, Gender, Klima und EU-Integration sind kein Spiegel der Gesellschaft, vielmehr sind sie ein Spiegel ihrer Spaltung. Wer die „richtigen“ Antworten gibt, darf sich natürlich auf die Schulter klopfen und fühlt sich im sicheren Raum der Tugend. Wer abweicht, wird zu einem Symptom erklärt. So verwandelt sich politische Bildung in ein Erziehungsprojekt.
Die politische Mitte ist heute Trugbild, ein moralischer Luftspiegelungseffekt, der Stabilität vorgaukelt, während die Gesellschaft im Nebel der Selbstgerechtigkeit taumelt. Das Testformat, das behauptet, die eigene politische Position zu bestimmen, entlarvt unfreiwillig, wie eng der Meinungskorridor geworden ist. Es markiert nicht, wo jemand steht, und zeigt stattdessen, wo er stehen darf. Die Mitte war das Versprechen, Extreme zu vermeiden. Heute ist sie selbst das Extrem: das Extrem der Selbstzufriedenheit, der moralischen Belehrung und der politischen Schläfrigkeit.