Ein Kommentar von Prof. Dr. Martin Schwab.
„Liebe Community,
In jüngerer Zeit hat sich die Debatte um Russland-Sanktionen gegen Einzelpersonen verstärkt, nachdem die EU durch Beschluss (GASP) 2025/2572 die Sanktionen, die sie im Vorjahr durch Beschluss (GASP 2024/2643 sowie durch Verordnung (EU) 2024/2642 gegen Einzelpersonen (damals u. a. gegen Thomas Röper und Alina Lipp) verhängt hatte, nunmehr auf weitere Personen, u. a. auf den ehemaligen Schweizer Oberst Jacques Baud ausgeweitet hat. Ich habe hier bewusst die Rechtsgrundlagen benannt, weil sie wichtig sind für eine rechtliche Einordnung. Ich beschränke mich nachfolgend auf das Zitat der Vorschriften aus Beschluss (GASP) 2024/2643; in der begleitenden Durchführungsverordnung VO (EU) 2024/2642 sind diese Vorschriften inhaltsgleich abgebildet, wenngleich mit anderer Artikel- bzw. Absatzbezeichnung.
Die Sanktionen, die in diesen Dokumenten gegen einzelne Organisationen, aber auch gegen einzelne Personen verhängt werden, sehen ein Einreise- und Durchreiseverbot (Art. 1 Beschluss [GASP] 2024/2643), das Einfrieren von Vermögenswerten (Art. 2 Abs. 1 Beschluss [GASP] 2024/2643) sowie das Verbot an jedermann, den sanktionierten Personen irgendwelche wirtschaftliche Ressourcen zukommen zu lassen (Art. 2 Abs. 2 Beschluss [GASP] 2024/2643)
Das klingt zunächst danach, als habe die EU endgültig und unverrückbar beschlossen, die sanktionierten Personen verhungern zu lassen und ihnen auch anwaltlichen Beistand zu verwehren. Ganz so verhält es sich jedoch nicht. Ganz im Gegenteil kommt den EU-Mitgliedstaaten ein beträchtlicher Handlungsspielraum zu:
Art. 3 Abs. 1 Buchstabe f) Beschluss (GASP) 2024/2643 erlaubt es den eigens dafür eingerichteten Agenturen der Mitgliedstaaten, die Deckung grundlegender Bedürfnisse der sanktionierten Personen zu unterstützen. Ich verstehe das so, dass die sanktionierten Personen berechtigt sind, bei der Agentur für Arbeit gemäß den Vorschriften des SGB II Bürgergeld zu beantragen.
Art. 3 Abs. 2 Beschluss (GASP) 2024/2643 erlaubt es den Mitgliedstaaten, auch entsprechende Hilfen Dritter zur Deckung grundlegender menschlicher Bedürfnisse zu genehmigen – allerdings „unter den ihnen angemessen erscheinenden Bedingungen“. Konkreter wird hier Art. 2 Abs. 3 Beschluss (GASP) 2024/2643: Die Mitgliedstaaten können erlauben, dass den sanktionierten Personen Ressourcen bereitgestellt werden unter anderem für die „Bezahlung von Nahrungsmitteln, Mieten oder Hypotheken, Medikamenten und medizinischer Behandlung, Steuern, Versicherungsprämien und Gebühren öffentlicher Versorgungseinrichtungen“ (Buchstabe a) und „für die Bezahlung angemessener Honorare und die Rückerstattung von Ausgaben im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen“ (Buchstabe b). Auch das allerdings wieder nur unter den Mitgliedstaaten „angemessen erscheinenden Bedingungen“.
Ich habe war noch nicht so ganz verstanden, wie sich die Erlaubnisvorbehalte in Ar. 3 Abs. 2 und in Art. 2 Abs. 3 Beschluss (GASP) 2024/2643 zueinander verhalten – aber auf jeden Fall ist diese Erkenntnis wichtig: Am Ende liegt es in den Händen der nationalen Behörden, ob den sanktionierten Personen anwaltliche Hilfe zuteil wird und ob man jene Personen wenigstens nicht hungern und frieren lässt. Die Bundesregierung kann sich hier nicht hinter der EU verstecken!
Überwunden geglaubte Reichsacht
Wenn aber die Bundesregierung derartige Genehmigungen NICHT erteilt, kehrt in Gestalt der Russland-Sanktionen eine Rechtsfigur zurück, die im Mittelalter als Sanktionsinstrument eingesetzt wurde, die wir aber überwunden zu haben hofften: die Reichsacht. Danach konnte jemand, der sich der staatlichen Gerichtsbarkeit entzog, der bestimmte besonders schwere Verbrechen (z. B. Landfriedensbruch) begangen hatte oder der dem Kirchenbann verfallen war, für friedlos und rechtlos erklärt werden. Man durfte ihn straflos töten, und sein Vermögen verfiel. Zumindest was den Vermögensverfall anbelangt, haben uns die EU-Sanktionen gegen Russland die Reichsacht zurückgebracht.
Mit einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat hat das alles nicht mehr das Geringste zu tun. Und zwar völlig egal wie man das Handeln der sanktionierten Personen inhaltlich bewertet.
Herzliche Grüße
Ihr und Euer
Martin Schwab“