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Demokratiedefizit im Wagenknecht-Bündnis? Die „Kader-Partei“ im Lichte des Parteiengesetzes

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Ein Gastbeitrag von Dejan Lazić, BSW-Erstmitglied, der bereits beim Gründungsparteitag in Berlin am 27.01.2024 auf den offensichtlichen Konflikt der BSW-Satzung mit dem Parteiengesetz hingewiesen hatte.
Zusammengefasst

Die innerparteiliche Demokratie im Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) steht im medialen Scheinwerferlicht (1). Eine schwere Belastungsprobe steht der Partei bevor. Die Bundestagswahl wird vorgezogen, und es müssen Landesverbände gegründet werden. Kritisiert wird die zentralisierte Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder durch den BSW-Bundesvorstand, die praktisch ohne Mitsprache der Landesverbände und den lokalen Mitgliedern beim Aufbau der Parteistrukturen erfolgt. Wie steht diese Struktur im Kontrast zu den demokratischen Grundsätzen des Parteiengesetzes (ParteiG)? Könnte dies langfristig die Glaubwürdigkeit und Integrität des BSW sowie die Teilnahme an Wahlen gefährden?

Innerparteiliche Demokratie als Belastungsprobe

Sahra Wagenknecht wollte ihre Partei von Anfang an als sogenannte „Kaderpartei“ aufbauen (2) mit straffen Strukturen und klaren Führungsprinzipien. Wagenknecht wollte „keine Spinner und Extremisten“ (3). Doch nun scheint der BSW-Bundesvorstand über das Ziel hinauszuschießen. Kritik wird laut, Machtkämpfe werden öffentlich ausgetragen. Die zentrale Kontrolle der Mitgliederauswahl greife massiv in die demokratischen Strukturen ein und untergrabe die föderalen Prinzipien, die eine Partei gemäß dem Parteiengesetz erfüllen muss. Grundsätzlich hat jede Partei in Deutschland „kaderartige“ Elemente und Strukturen – ein straffer Aufbau und eine klare Führung sind legitim. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass grundlegende demokratische und föderale Prinzipien missachtet werden dürfen.

Das Problem wird besonders deutlich im Umgang der Parteizentrale mit dem Landesverband in Thüringen. Das Nachrichtenportal The Pioneer berichtet über einen Machtkampf innerhalb des BSW (4), BILD spekuliert über eine Entmachtung der Landeschefin (5), und MDR sieht gar eine „rechtswidrige“ Aufnahmepraxis (6). Der Bundesverband habe in Thüringen laut The Pioneer 21, BILD schreibt von 30, neue Mitglieder aufgenommen – ohne Beteiligung oder Zustimmung des dortigen Landesverbands. Die Entscheidung über die Mitgliedschaft blieb allein beim Bundesvorstand, der damit die Mehrheitsverhältnisse im Landesverband direkt beeinflusste. Ein Mitglied des Landesverbands Thüringen bezeichnete diese Praxis als klaren Versuch, die parteiinternen Mehrheitsverhältnisse zu manipulieren. Die Recherche von The Pioneer verdeutlicht, wie dieses Vorgehen den demokratischen Einfluss der bestehenden Mitglieder im Landesverband aushebelt, um zentrale Interessen durchzusetzen. 

The Pioneer führt weiter aus, wie der Bundesvorstand entschieden habe, die Zusammensetzung des Thüringer Landesverbands aktiv zu beeinflussen, indem neue Mitglieder ohne Rücksprache mit dem bestehenden Landesvorstand aufgenommen wurden. Dies zeigt, dass der zentrale Zugriff des Bundesvorstands auf die Mitgliedsaufnahme nicht nur eine theoretische, sondern eine reale Bedrohung für die demokratische Selbstverwaltung der Landesverbände darstellt. The Pioneer weiter: „Es sei offensichtlich, dass die BSW-Spitze versucht habe, loyale Mitglieder in den Landesverband einzuschleusen, sagen Teilnehmer der Mitgliederversammlung. So habe die Parteispitze versucht, die Mehrheitsverhältnisse zu beeinflussen. Denn bereits am 23. November wird auf dem Mitgliederparteitag des BSW in Thüringen darüber abgestimmt, ob die neue Partei in eine Brombeer-Koalition eintritt oder nicht.“

Diese Strategie wirft die Frage auf, ob der BSW-Bundesvorstand seine Macht nutzt, um unbequeme Mehrheitsverhältnisse in den Landesverbänden zu umgehen.

Während das Parteiengesetz eine demokratische Mitwirkung innerhalb von Parteien fordert, sieht die Bundessatzung des BSW vor, dass die Entscheidung über neue Mitglieder ausschließlich in den Händen des Bundesvorstands liegt (7). Die Landesverbände haben nur dann ein Mitspracherecht, wenn ihnen dieses durch eine ausdrückliche Vollmacht des Bundesvorstands erteilt wird. Eine solche Vollmacht wurde im Fall Thüringen nicht erteilt, was zur Folge hatte, dass der Bundesvorstand ungehindert und ohne Rücksprache Mitglieder aufnehmen konnte. Dieser zentrale Kontrollmechanismus ist nicht nur undemokratisch, sondern könnte auch als eine bewusste Strategie zur Kontrolle und Manipulation der Parteistrukturen angesehen werden.

Vergleich zur AfD und etablierten Parteien: Mehr Mitbestimmung auf lokaler Ebene

Ein Vergleich mit anderen Parteien macht das Demokratiedefizit im BSW deutlich. Die AfD beispielsweise, die immer wieder als demokratiefeindlich kritisiert wird, gewährt ihren lokalen Gliederungen dennoch ein weitreichendes Mitspracherecht bei der Aufnahme neuer Mitglieder. Gemäß § 4 ihrer Satzung (8) entscheiden die AfD-Kreisverbände über die Aufnahme von Mitgliedern, wodurch eine Dezentralisierung und somit eine Mitbestimmung auf lokaler Ebene gewährleistet wird. Dies entspricht auch den Prinzipien der SPD, CDU, Grünen und FDP, bei denen die Landesverbände die Entscheidungshoheit über ihre eigenen Mitglieder besitzen und somit die innerparteiliche Macht dezentralisiert wird. Diese Praxis stärkt die Demokratie innerhalb der Partei und verhindert, dass zentrale Organe wie der Bundesvorstand die Mitgliedsstruktur willkürlich beeinflussen.

Im Gegensatz dazu steht der BSW-Bundesvorstand, der mit seiner alleinigen Entscheidungsbefugnis die regionale Selbstverwaltung der Landesverbände untergräbt.

Diese zentrale Kontrolle widerspricht den Grundsätzen des Parteiengesetzes (§ 7 ParteiG), das darauf abzielt, eine demokratische Struktur in allen Ebenen der Partei sicherzustellen. Wenn ein Bundesvorstand ohne Abstimmung und Zustimmung eines bestehenden Landesverbands die Zusammensetzung der Mitgliederschaft verändern kann, werden die Mitgliederrechte und die Autonomie der Landesverbände faktisch ausgehebelt. Dies würde einen faktischen Einheitsverband schaffen und den verfassungsrechtlich determinierten demokratischen Willensbildungsprozess von „unten nach oben“ zuwiderlaufen. Daher sind Parteien verpflichtet, eine gebietliche Gliederung zu schaffen. Die Entscheidung darüber, wie die gebietliche Gliederung konkret auszugestalten ist, treffen die politischen Parteien in der Regel der ihnen zugebilligten Organisationsautonomie selbst und haben insoweit einen weiten Ermessensspielraum. Der Gesetzgeber stellt lediglich ein Mindestmaß an Rahmenvorschriften auf, „die nach allgemeinen Erfahrungen über das Parteienleben zur Gewährleistung einer demokratischen Willensbildung unbedingt erforderlich sind“ (9).

Gefahr für die Glaubwürdigkeit der Partei und demokratische Prinzipien

Der aktuelle Fall in Thüringen zeigt deutlich, wie problematisch dieser zentrale Zugriff auf die Mitgliederaufnahme sein kann. BSW-Mitglieder aus Thüringen befürchten, dass der Bundesvorstand diese Strategie auch in anderen Bundesländern verfolgen könnte, um unliebsame Mehrheitsverhältnisse zu umgehen und eine Mitgliederbasis zu schaffen, die die zentrale Linie stützt. So erklärt ein Mitglied im Gespräch mit dem Autor: „Die Entscheidung des Bundesvorstands wird als Versuch interpretiert, die Macht in den Landesverbänden durch direkte Einflussnahme zu sichern.“ Ein anderes Mitglied fügte hinzu: „Es fühlt sich an, als solle der Landesverband Thüringen zur Durchsetzung von bundesweiten Entscheidungen instrumentalisiert werden. Wir hätten dann wieder eine Einheitspartei. Nein danke!“

Diese Äußerungen verdeutlichen die Auswirkungen dieser zentralistischen Kontrolle auf die demokratische Legitimität der BSW-Partei. Ein solches Vorgehen widerspricht den Anforderungen des Parteiengesetzes, das eine demokratische Struktur in den Parteigremien vorschreibt und sicherstellen soll, dass die Mitglieder an wesentlichen Entscheidungen beteiligt sind.

Aufbau der Landesverbände unter Zeitdruck: Risiko für die Bundestagswahl?

Das BSW steht vor einer entscheidenden Herausforderung: Bis zum Jahresende müssen vier weitere Landesverbände gegründet werden, um bei der vorgezogenen Bundestagswahl teilnehmen zu können. Dieser Zeitdruck birgt erhebliche Risiken. Sollte der Aufbau dieser Landesverbände unter Missachtung demokratischer Prinzipien oder gar in Verletzung des Parteiengesetzes ablaufen, könnte dies die rechtliche Grundlage für die Wahlteilnahme gefährden. Der zentrale Eingriff des Bundesvorstands in die Mitgliedsaufnahme, wie bereits im Landesverband Thüringen praktiziert, widerspricht den föderalen und demokratischen Prinzipien, die für die Zulassung als Partei entscheidend sind. Ohne Einhaltung dieser Prinzipien besteht die Gefahr, dass das BSW mit rechtlichen Anfechtungen konfrontiert wird und dessen Ambitionen gefährdet.

Aufnahmestopp und Verzögerungen im Mitgliederzugang

Das BSW sieht sich im Landesverband Thüringen mit Kritik an einem vom Bundesvorstand verhängten Aufnahmestopp konfrontiert. Während reguläre Anträge unbeantwortet bleiben, nahm der Bundesvorstand gezielt neue Mitglieder auf, um die Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Berichten zufolge betrifft diese Praxis nicht nur Thüringen: Auch in anderen Landesverbänden warten Bewerber bereits seit über sechs Monaten auf eine Entscheidung oder werden zunächst nur als „Unterstützer“ aufgenommen. Wer sich in dieser Rolle „bewährt“, kann später mit einer Mitgliedschaft belohnt werden.

Diese Praxis stellt eine Gefährdung für die Transparenz und Offenheit dar, die für die innerparteiliche Demokratie essenziell sind, und könnte im Widerspruch zu den Anforderungen des Parteiengesetzes stehen. § 10 PartG fordert von politischen Parteien eine demokratische Struktur und Offenheit gegenüber Neumitgliedern. Entgegen weitläufiger Auffassung sind Parteien nicht verpflichtet, jeden Bewerber aufzunehmen. Jedoch muss das Aufnahmeverfahren jedem die Möglichkeit bieten, einen Antrag zu stellen und eine Antwort zu erhalten, selbst wenn es eine Ablehnung sein sollte. Ein ungerechtfertigter, langfristiger Aufnahmestopp, Verzögerungen bei der Bearbeitung von Anträgen und das Modell der „Bewährung“ als Unterstützer erscheinen rechtlich hochproblematisch. Solche Maßnahmen könnten als strategischer Versuch interpretiert werden, den Zugang zu Mitbestimmungsrechten zu kontrollieren und die innerparteilichen Machtverhältnisse zu sichern.

Bisher mussten ordentliche Gerichte dazu keine Entscheidungen treffen. Dies könnte sich jedoch ändern, wenn unzufriedene Unterstützer oder abgelehnte Bewerber klagen und dadurch Präzedenzfälle mit ungewissem Ausgang für das BSW schaffen.

Reformbedarf: Für eine transparente und demokratische Mitgliederentscheidung

Es besteht ein dringender Bedarf, die BSW-Bundessatzung zu reformieren und ein Verfahren zu schaffen, das den Landesverbänden und Mitgliedern echte Mitbestimmungsrechte einräumt. Ein demokratisches Aufnahmeverfahren sollte sicherstellen, dass neue Mitglieder in einem transparenten und partizipativen Prozess aufgenommen werden und die regionalen Gliederungen in ihrer Autonomie gestärkt werden. Dies würde nicht nur den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen, sondern auch das Vertrauen der Mitglieder in die innere Struktur und Glaubwürdigkeit der Partei wiederherstellen.

Die derzeitige Praxis des BSW-Bundesvorstands, die Aufnahme neuer Mitglieder zentral zu steuern, „sieht nicht nur undemokratisch aus, sondern droht die Partei in ihrer Glaubwürdigkeit zu beschädigen“, heißt es aus Thüringen. Ohne eine Reform der Satzung und eine Stärkung der Landesverbände könnte das Demokratiedefizit im BSW langfristig zu einem Vertrauensverlust führen, der die Partei nachhaltig schwächen würde.

Die innerparteiliche Demokratie muss geschützt und gefördert werden – andernfalls riskiert die Partei, ihre Basis und ihre eigenen Prinzipien zu verlieren.


Quellenangaben:

(1) Mediale Aufmerksamkeit:
Thüringen24 vom 08.11.24: Nach Thüringen-Wahlen: Öffentlicher Machtkampf im BSW – „Es wird unangenehm“ https://www.thueringen24.de/thueringen/article300414768/thueringen-wahlen-news-bsw-katja-wolf-sahra-wagenknecht-junge.html
Web-Archive: https://archive.is/wip/uHL4z

Focus vom 05.11.24: https://www.focus.de/politik/auf-das-grosse-wagenknecht-raetsel-in-hamburg-gibt-es-jetzt-eine-antwort_dbadb787-bf3e-41a3-be3a-6abedc81bff9.html
Web-Archive: https://archive.is/zE6iQ

verweist auf Mopo vom 01.11.24: Wagenknechts strenge Dienerin, Web-Archive: https://archive.is/vt1MS 

Mopo 07.11.24: Nach Ampel-Aus: BSW will in Hamburg zur Bundestagswahl antreten – wirklich?
https://www.mopo.de/hamburg/politik/nach-ampel-aus-bsw-will-in-hamburg-zur-bundestagswahl-antreten-wirklich/
Web-Archive: https://archive.is/Vvix8

FAZ vom 07.11.24: Eile beim BSW – Landesverband Bayern kommt am 16. November
https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/eile-beim-bsw-landesverband-bayern-kommt-am-16-november-110096189.html
Web-Archive: https://archive.is/wip/6XKWM

(2) Cicero vom 09.09.24: https://www.cicero.de/innenpolitik/buendnis-sahra-wagenknecht-kaderpartei
Web-Archive: https://archive.is/GEgEh

(3) ntv vom 23.10.2023: Sahra Wagenknecht will keine „Spinner und Extremisten“
https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Sahra-Wagenknecht-will-keine-Spinner-und-Extremisten-article24483399.html
Web-Archive: https://archive.is/wip/3srwL
YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=7uiD_690w9U

(4) ThePioneer vom 06.11.2024: Machtkampf zwischen Wagenknecht und Katja Wolf, gibt es beim BSW den nächsten Eklat?
https://www.thepioneer.de/originals/others/articles/gibt-es-beim-bsw-den-naechsten-eklat
Web-Archive: https://archive.is/IS6Aq

(5) BILD vom 08.11.24: Will Wagenknecht ihre Thüringen-Chefin entmachten? Heimlich 30 neue Mitglieder eingeschleust: https://www.bild.de/politik/inland/30-neue-aufpasser-will-wagenknecht-ihre-thueringen-chefin-entmachten-672c6db3048fa103a43c2c8a
Web-Archive: https://archive.is/wip/m9ENl

(6) MDR vom 08.11.24: Darf Wagenknecht das eigentlich? Über die Mitgliederaufnahme beim Thüringer BSW https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/bsw-wagenknecht-mitglieder-machtkampf-koalitionsverhandlung-100.html
Web-Archive: https://archive.is/wip/KJWDc

(7) § 4 Abs. 4 der BSW-Bundessatzung: „Über die Aufnahme entscheidet grundsätzlich der Bundesvorstand. Der Parteivorstand kann hierbei dem zuständigen Landesverband sowohl für den Einzelfall als auch generell schriftlich Vollmacht erteilen. Diese Vollmacht kann jederzeit widerrufen werden. Der Parteivorstand bleibt stets entscheidungsbefugt.“ 
Abrufbar unter: https://bsw-vg.de/wp-content/uploads/2024/02/Satzung_BSW.pdf

(8) Bundessatzung der Parteien
BSW: https://bsw-vg.de/wp-content/uploads/2024/02/Satzung_BSW.pdf
AfD: https://www.afd.de/satzung/
SPD: https://www.spd.de/partei/#c212026
DieGrünen: https://wiki.gruene-mv.de/Satzung_des_Bundesverbandes
FDP: https://www.fdp.de/seite/bundessatzung-geschaefts-und-beitragsordnung-datenschutzrichtlinie

(9) Vgl. Beck-Onlinekommentar, Martin Morlok, ParteiG § 7 Gliederung

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