Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Organklagen der Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zurückgewiesen, ohne sie inhaltlich zu prüfen. Wagenknechts Partei kritisierte die Reihenfolge auf Stimmzetteln und verlangte eine schnellere Neuauszählung bei knappen Wahlergebnissen. Die Karlsruher Richter erklärten die Klagen jedoch aus formalen Gründen für unzulässig. Damit bleibt offen, ob das Wahlsystem strukturell etablierte Parteien bevorzugt und neue politische Kräfte benachteiligt – und ob formale Demokratie tatsächlich Chancengleichheit gewährleistet.
Hintergrund der Klagen
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit »zwei Beschlüssen vom 12. Mai 2025« zwei Organklagen der neuen Partei Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit (BSW) abgewiesen. Am 23. Februar 2025 trat die Partei erstmals bei der Bundestagswahl an. Doch der ganz große Erfolg blieb aus: Das BSW verfehlte die Fünf-Prozent-Mauer knapp und errang keine Sitze im Bundestag. Wagenknecht zweifelte das Ergebnis an und sah sich durch Regelungen des Wahlrechts benachteiligt. Im März 2025 zog sie deshalb vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und reichte gleich zwei Klagen ein. Dabei machte das BSW eine Verletzung seines Rechts auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb geltend. Konkret beanstandete es zweierlei: Zum einen habe es der Bundestag rechtswidrig unterlassen, einen Rechtsbehelf für eine umgehende Neuauszählung bei knapper Verfehlung der Fünf-Prozent-Hürde einzuführen. Zum anderen müsse das Bundeswahlgesetz eine andere Reihenfolge der Parteien auf den Stimmzetteln vorsehen – die bisherige Regelung bevorteile etablierte Parteien und benachteilige neue Gruppierungen.
Diese beiden Organklagen richteten sich formell gegen den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber. Das BSW wollte erreichen, dass Karlsruhe die Wahlauszählung schnell überprüft und den Gesetzgeber verpflichtet, die Stimmzettel-Regelung abzuändern. Ein ungewöhnlicher Schritt: Normalerweise werden Wahlfehler über einen Wahleinspruch im Bundestag und danach eine Wahlprüfungsbeschwerde beim BVerfG geprüft, was Zeit kostet. Das BSW versuchte hier den direkten Weg zum höchsten Gericht – im Eilverfahren sogar noch vor Feststellung des endgültigen Ergebnisses. Doch dieser Versuch blieb erfolglos.
Formalismus schlägt Inhalt – Keine Prüfung der Vorwürfe
Das Bundesverfassungsgericht hat die beiden Klagen der Wagenknecht-Partei ohne inhaltliche Prüfung verworfen. Mit Beschlüssen erklärte der Zweite Senat beide Organstreitverfahren für unzulässig. Die höchste richterliche Instanz hat sich also gar nicht erst mit den behaupteten Wahlrechtsverstößen im Detail beschäftigt. Begründung: Die Anwälte Wagenknechts hätten die Möglichkeit einer Verletzung des Rechts der Partei auf Chancengleichheit nicht hinreichend substantiiert begründet. Anders gesagt: Es fehlte an einer schlüssigen, konkreten Darlegung, inwiefern gerade diese Wahlrechtsregeln die Wagenknecht-Partei in ihren verfassungsmäßig garantierten Wettbewerbschancen verletzt haben sollen.
Besonders deutlich wird dies beim Blick auf die Stimmzettel-Reihenfolge. Das BSW hatte geklagt, weil es sich bei der Reihenfolge auf den Stimmzetteln ungerecht behandelt sah und eine bessere Platzierung verlangte, die seiner bereits erworbenen politischen Bedeutung gerecht werde. Angeblich würden alle Parteien, die zuvor unter fünf Prozent geblieben waren, einfach alphabetisch gelistet, sodass das BSW als „Bündnis“ mit „B“ keinen Vorteil gegenüber kleinsten Splitterparteien gehabt habe. Das Gericht stellt jedoch klar, dass diese Annahme sachlich unzutreffend sei. Nach geltendem Bundeswahlgesetz werden die Parteien auf dem Stimmzettel nämlich nach ihrem Zweitstimmenergebnis der letzten Bundestagswahl im jeweiligen Bundesland sortiert. Neue Parteien ohne vorheriges Ergebnis kommen automatisch ans Ende der Liste – häufig alphabetisch sortiert untereinander. BSW war also keineswegs „gleich“ behandelt wie alle Kleinparteien, sondern schlicht als Neueinsteiger nach den etablierten Parteien aufgeführt. Dass das BSW dies als „ungerechtfertigte Gleichbehandlung“ rügte, wies Karlsruhe als nicht nachvollziehbar zurück. Im Kern verlangte die Wagenknecht-Partei sogar eine Bevorzugung gegenüber anderen neuen Wettbewerbern – eine Sichtweise, die ironischerweise dem Gleichheitsgrundsatz widerspricht.
Auch beim Thema Neuauszählung überzeugte das BSW das Gericht nicht. Zwar ist das Ärgernis nachvollziehbar: Wer an der 5-Prozent-Hürde scheitert, hat ein Interesse, mögliche Zählfehler sofort aufzuklären. Doch die höchsten Richter betonten, dass dafür der etablierte Weg über Wahleinspruch und Wahlprüfung vorgesehen sei. Eine Eilentscheidung aus Karlsruhe zur Neuauszählung noch vor Abschluss der Wahlprüfung sei nicht vorgesehen – einen entsprechenden Eilantrag hatte der Senat bereits am 13. März 2025 verworfen. Sollte der Bundestag jedoch unangemessen lange über einen Wahleinspruch entscheiden, hält sich das BVerfG ein früheres Einschreiten offen. Hier aber konnte das BSW nicht darlegen, dass die bestehenden Verfahren unzumutbar oder verfassungswidrig wären. Insgesamt waren die Organklagen also formal unzulässig, weil sie die behaupteten Verstöße nicht schlüssig genug aufzeigten – Karlsruhe musste auf die inhaltlichen Fragen gar nicht erst eingehen.
Neue Parteien – Hohe Hürden in der politischen Arena
Trotz dieser juristischen Niederlage hat die Aktion der Wagenknecht-Partei strukturelle Hürden offengelegt, denen sich neue Parteien im deutschen Wahlsystem gegenübersehen. Einige davon im Überblick:
- Fünf-Prozent-Sperrklausel: Wer weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen erhält, zieht nicht in den Bundestag ein. Dieses Quorum soll die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sichern, führt aber dazu, dass neue Parteien häufig trotz hunderttausender Stimmen leer ausgehen. Im Fall des BSW bedeutete ein knappes Verfehlen der 5-Prozent-Marke, dass die Stimmen ihrer Anhänger faktisch unter den Tisch fallen – ein frustrierendes Ergebnis, das oft die Wahrnehmung einer „verlorenen Stimme“ erzeugt. Viele Wähler zögern deshalb, neue Parteien zu wählen, was zu einem Teufelskreis führen kann.
- Stimmzettel-Reihenfolge: Wie im Verfahren thematisiert, stehen etablierte Parteien ganz oben auf dem Wahlzettel, sortiert nach früherem Stimmenanteil. Neue Parteien erscheinen erst danach. Diese scheinbar neutrale Regel verschafft bekannten Parteien einen Aufmerksamkeitsvorsprung, während Newcomer unten zwischen Kleinparteien leicht übersehen werden. Psychologisch mag die prominente Platzierung einen kleinen Bonus bringen – was die Chancen der Neuen weiter schmälert.
- Unterstützungsunterschriften: Neue Parteien müssen, um zur Wahl zugelassen zu werden, im Vorfeld Zehntausende Unterstützungsunterschriften sammeln (pro Bundesland eine festgelegte Zahl). Etablierte Parteien im Bundestag sind von dieser Pflicht befreit. Die Hürde soll „Spaßkandidaturen“ filtern, bedeutet aber erheblichen organisatorischen Aufwand und Zeitverlust für junge Parteien, die ihre Energie stattdessen in den Wahlkampf stecken könnten.
- Finanzierung und Ressourcen: Parteien, die noch nicht im Parlament vertreten sind, bekommen weniger staatliche Teilfinanzierung. Erst ab 0,5 Prozent der Stimmen gibt es Gelder – und auch dann deutlich weniger, als große Parteien erhalten. Zudem fehlen oft Großspender, Mitgliedsbeiträge und Infrastruktur. 2018 hatten die großen Volksparteien sogar versucht, die »Obergrenze der Parteienfinanzierung« anzuheben, was letztlich vom BVerfG als verfassungswidrig kassiert wurde. Doch grundsätzlich gilt: Finanzielle Vorteile lassen sich im Wahlkampf in Werbung und Präsenz ummünzen.
- Medienpräsenz: In TV-Duellen, Talkshows und Nachrichten dominieren die etablierten Parteien. Neue Gruppierungen haben es schwer, in die eng getakteten Formate zu kommen. Einladungskriterien orientieren sich oft an Umfragen oder Fraktionsstatus – zum Nachteil der Newcomer. So entsteht ein Aufmerksamkeitsbias, der wiederum Auswirkungen auf Wählerentscheidungen hat.
- Langsame juristische Verfahren: Das Wahlprüfungsverfahren ist zeitaufwendig. Bis zu einer Klärung vergehen Monate, manchmal sogar Jahre, sodass die politische Bedeutung eines gewonnenen Mandats oft verpufft.
Viele dieser Hürden werden rational begründet: Stabilität, Vermeidung von Zersplitterung, Sicherung von Ernsthaftigkeit der Kandidaturen. Doch zusammengenommen entsteht ein Spielfeld, das für neue Parteien spürbar uneben ist. Wagenknecht ist nicht die erste Herausforderin, die das bemängelt. Historisch konnten sich nur wenige neue Parteien in den Bundestag kämpfen, meistens unter besonderen Umständen: Die Grünen schafften es in den 1980ern nach jahrelanger Basisarbeit, die AfD 2017 im zweiten Anlauf, begünstigt durch Krisenthemen. Andere Versuche – von den Piraten bis zur Lucke- oder Petry-Abspaltung aus der AfD – scheiterten an dieser Hürde. Formal herrscht Chancengleichheit, doch in der Realität sind Ressourcen, Sichtbarkeit und finanzielle Möglichkeiten höchst ungleich verteilt.
Karlsruhe als Schiedsrichter der Chancengleichheit
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung immer wieder betont, dass der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien ein hohes Gut ist – aber kein absolutes. Der Staat muss faire Wettbewerbsbedingungen gewährleisten, darf aber sachlich gerechtfertigte Unterschiede machen. Im vorliegenden Fall sah Karlsruhe keine ausreichende Begründung dafür, dass das Wahlrecht die Wagenknecht-Partei unfair diskriminiert.
In anderen Fällen allerdings hat das BVerfG durchaus zugunsten benachteiligter Parteien eingegriffen: So wurde die Drei-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen 2014 »als unverhältnismäßig gekippt«, weil eine solch strikte Hürde im EU-Parlament nicht nötig sei. Dort überwogen aus Sicht der Richter die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit kleiner Parteien das Interesse an Stabilität. Ein weiteres Beispiel: »Im Februar 2023 entschied Karlsruhe«, dass die Förderung der parteinahen Stiftungen nicht ohne gesetzliche Grundlage erfolgen darf – das jahrelange Leer-Aus der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung verletze die AfD in ihrer Chancengleichheit. Erst diese höchstrichterliche Entscheidung erzwang eine rechtliche Gleichbehandlung bei der Stiftungsfinanzierung. Und im Januar 2023 hatte das Gericht die »Aufstockung der staatlichen Parteienfinanzierung« durch die damalige GroKo kassiert, weil sie unzureichend begründet und damit verfassungswidrig sei. Diese Urteile zeigen: Die Karlsruher Richter achten gelegentlich darauf, dass Machtinhaber die Spielregeln nicht zu einseitig zu ihren Gunsten verändern. Gleichzeitig lassen sie dem Gesetzgeber Raum, legitime Schranken wie die 5-Prozent-Hürde aus übergeordneten Gründen einzusetzen – solange diese für alle gelten und demokratisch legitimiert sind.
Demokratie: Formale Gleichheit vs. reale Ausgrenzung
Der Fall BSW verdeutlicht, wie formale Gleichheit im Wahlrecht realer Ausgrenzung gegenübersteht. Auf dem Papier hat jede neue Partei dieselben Chancen – in der Praxis aber oft nur theoretisch. Die etablierte politische Ordnung schützt sich selbst durch Regeln, die Stabilität sichern, aber Neulingen erschweren, an den Tisch zu kommen. Legitim oder zu problematisch? Diese Frage stellt sich mit jeder aufstrebenden Protestpartei neu.
Man kann argumentieren, dass die Erfolglosigkeit mancher Neugründungen schlicht darin liegt, dass sie zu wenige Bürger überzeugen – Demokratie ist kein Wunschkonzert für Politiker in spe, sondern ein Wettbewerb um Wählerstimmen. Wer die 5 Prozent nicht packt, dem haben am Ende demokratisch die Stimmen gefehlt. Formale Gleichheit herrscht: Jede Stimme zählt zunächst gleich, jede Partei unterliegt denselben Regeln. Ausgrenzung findet nur dort statt, wo nicht alle dieselbe Unterstützung bekommen haben.
Doch diese Sicht übersieht die Vorwirkungen der Hürden. Die schiere Existenz der Sperrklausel beeinflusst das Wahlverhalten – viele Menschen trauen sich aus Furcht vor der „verschenkten Stimme“ nicht, Veränderung zu wählen. Die Medien und die Ressourcenungleichheit tragen dazu bei, dass Newcomer es extrem schwer haben, überhaupt Stimmen zu gewinnen. Real ist der demokratische Wettbewerb also verzerrt, auch wenn die Regeln neutral formuliert sind. Demokratie lebt aber auch von der Erneuerungsfähigkeit. Wenn neue Strömungen sich auf legalem Wege kaum Gehör verschaffen können, steigt das Risiko, dass sich Unzufriedenheit anderweitig Bahn bricht – etwa durch außerparlamentarische Radikalisierung oder Politikverdrossenheit.
Testfall BSW
Sahra Wagenknechts BSW ist ein interessanter Testballon. Hier versucht nicht eine schrille Splittergruppe, sondern eine prominente Politikerin mit beträchtlicher Anhängerschaft den Sprung. Dennoch zeigte sich: Selbst eine bekannte Persönlichkeit schützt nicht vor dem harten Aufschlag auf dem Boden der Regeln. Die Legitimität der Demokratie bemisst sich aber auch daran, ob neue politische Initiativen faire Chancen erhalten, die bestehenden Kräfte herauszufordern. Das heißt nicht, alle Schranken fallen zu lassen. Aber es bedeutet, diese immer wieder zu hinterfragen: Dient die 5-Prozent-Hürde noch dem Gemeinwohl oder eher dem Machterhalt und wo könnte sie flexibilisiert werden? Wäre ein automatischer schneller Nachzähl-Mechanismus bei hauchdünnen Ergebnissen sinnvoll, um Vertrauen zu stärken? Sollte man über rotierende oder Los-Reihenfolgen auf Stimmzetteln nachdenken, um Startvorteile zu minimieren? Solche Ideen mögen aktuell wenig Unterstützung im Establishment finden – doch sie anzusprechen gehört zu einer lebendigen Debatte.
Karlsruhe – Wächter oder Verwalter des Status quo?
Karlsruhe hat im konkreten Fall erwartbar auf die Einhaltung der formalen Spielregeln gepocht. Wagenknecht wird sich nun auf den mühsamen politischen Weg konzentrieren müssen, statt auf juristische Abkürzungen. Trotzdem hat diese Episode gezeigt: Die Diskussion um echte Chancengleichheit im politischen Wettbewerb ist alles andere als theoretisch. Demokratie heißt nicht nur, Regeln formal gleich anzuwenden, sondern auch, immer wieder zu prüfen, ob die Arena des politischen Wettbewerbs tatsächlich allen eine realistische Chance gibt – oder ob neue Stimmen im Keim erstickt werden.
Letztendlich stellt sich die Frage: Schützt das Bundesverfassungsgericht hier die demokratische Fairness oder vielmehr die bestehende politische Ordnung? Die Entscheidungen vom 12. Mai 2025 wirken auf den ersten Blick wie eine Ohrfeige für das BSW – man könnte von Karlsruhe erwarten, einer neuen Partei, die fast 5 Prozent der Bürgerstimmen hinter sich hat, zumindest Gehör in der Sache zu schenken. Stattdessen erfolgte eine Belehrung über Formalien. Natürlich darf das Gericht keine Anwaltstätigkeit für Kläger übernehmen, die ihre Ansprüche nicht sauber formulieren. Doch das Ergebnis ist, dass keine der inhaltlichen Sorgen – sei es die Möglichkeit von Auszählungsungenauigkeiten, sei es die faktische Schlechterstellung auf Wahlzetteln – einer richterlichen Bewertung unterzogen wurde. Der Schutzauftrag des Gerichts (etwa aus Art. 21 GG) läuft ins Leere, wenn jede potenziell neue Konkurrenz an prozeduralen Hürden scheitert.
Transparenzhinweis
Dejan Lazić, Sozialökonom und Wirtschaftsjurist, Hochschuldozent für Staats- u. Migrationsrecht (2002–2022), Geschäftsführer einer internationalen Rechts- und Wirtschaftsberatungsgesellschaft.
Als Gründungsmitglied des BSW machte er sich vor allem als scharfsinniger parteiinterner Kritiker einen Namen: Ein „BSW-Rebell“ mit Prinzipien.
Er schreibt über Macht, Moral und Manipulation – und wie politische Parteien, Medien und Konzerne mit denselben Mitteln die Demokratie zur Fassade machen.