„Hinter tausend Stäben keine Welt“; die Jahre 2020 bis 2023 beschreiben die Autoren Philine Conrad und Dieter Brandecker treffend mit Rainer Maria Rilkes Worten aus seinem berühmten Gedicht über den „Panther“, dessen „Wille [betäubt]” ist durch das Auf- und Abgehen in einem Käfig des „Jardin des Plantes”, dem Pariser Tiergarten.
Während der Darbietung durch das Ensemble, das neben der Autorin selbst aus der heute-show-Aussteigerin Christine Prayon und den Film- und Fernsehschauspielern Arnd Schimkat und Marc-Philipp Kochendörfer bestand, war die bedrückende Stimmung der „Geistigen Gefangenschaft” in verschiedenen Einzelepisoden menschlicher Schicksale deutlich zu spüren.
Die heftigen Einschränkungen und Konsequenzen für das Leben der Charaktere, ob ängstlich, traurig oder wütend, ob überzeugt von der Richtigkeit oder des Hinterfragens staatlich-autoritären Vorgehens, wirken zunächst überspitzt. Menschen neigen zum Vergessen und dazu, die Dinge in Retrospektive als weniger tragisch zu empfinden, doch eben diese Verhaltensmuster erschweren die Aufarbeitung von Unrecht.
Die Grundrechtseinschränkungen, die Philine Conrad bereits 2021 in dem Stück verarbeitete, traten alle „nach und nach ein”, wie sie mir in unserem anschließenden Gespräch berichtet.
„Es ist […] ein kompaktes Konglomerat von diesen ganzen Szenarien”, so Conrad, die dazu führten, dass Beziehungen in die Brüche gingen, Nachbarn dazu beitrugen, dass Jugendliche aufgrund eines Treffens mit ein paar Freunden brutal verhaftet wurden, Menschen Gewalt gegen andere verübten, die sich nicht an die Regeln halten wollten oder Kinder nicht mehr getröstet werden durften, weil körperliche Nähe untersagt war.
#RichtigErinnern durch das Schaffen von Distanz
Dem Zuschauer wird das Erinnern erleichtert durch die bewusst wirkende szenische Darstellung der Schauspieler, von denen jeder aus einem Manuskript liest, was für das Publikum offenkundig gemacht wird.
Eine Szene, die im Theater spielt, bei der das Stück unterbrochen wird, weil sich jemand im Publikum befindet, der die Zugangsvoraussetzungen nicht erfüllt, entspricht der Brechtschen Empfehlung für das politische Theater. Seine Theorie des epischen Theaters sollte durch das Schaffen von Distanz und der Verhinderung von Einfühlung in die dargestellten Charaktere den Anspruch verwirklichen, das Publikum zum Nachdenken anzuregen.
Bertolt Brecht war der Ansicht, dem Zuschauer müsse zu jeder Zeit bewusst sein, dass er Zuschauer ist. Schauspiel ist keine Berieselung. Schauspiel habe demnach vielmehr den Auftrag, herrschende Verhältnisse verändern zu wollen.
Das Hörspiel von Philine Conrad und Dieter Brandecker offeriert genau dieses Potenzial.
Es wirkt bedrückend, es macht nachdenklich und es hinterlässt Gänsehaut, aber auch Fassungslosigkeit über die Dinge, die sich die Menschen in den Jahren 2020 bis 2023 gegenseitig angetan haben.
Es leistet einen deutlichen Beitrag zur Aufarbeitung, was Bernd Gnann dazu veranlasste, diese Thematik im Kammertheater Karlsruhe auf die Bühne zu bringen.
„Ich finde das ganz wichtig, man muss darüber sprechen, […] damit das einfach nicht noch mal so passieren wird. […] Die Bevölkerung sieht es noch nicht so. Die schlucken alles in sich hinein. Das ist ein typisch deutsches Verhalten; ja, jetzt müssen wir nach vorne gucken. Da sag ich, ja, nach vorne gucken definitiv, aber auch nach hinten gucken. Was ist denn passiert und was ist kaputt gemacht worden, [denn] die Bevölkerung ist immer noch gespalten.”
Bernd Gnann im Gespräch mit HAINTZ.media (Min 22:40)
Eine Gesellschaft, die nicht zur Aufarbeitung bereit ist, kann nur schwer wieder zusammen wachsen. Philine Conrad wünscht sich eine tatsächliche Bereitschaft, miteinander zu reden, auch mal zu streiten, aber vor allem, eine ehrliche Aufarbeitung zuzulassen. Sie betont, dass sie einem möglichen Diskurs offen gegenüber steht, wenn dieser sich sachlich auf inhaltliche Aspekte bezieht.
„Ein Machtverhältnis, was nicht konform geht mit einer souveränen, selbstständigen und selbst denkenden Gesellschaft […]; da muss man drüber reden und sagen ‚Warte mal, wenn ihr uns wegsperrt und wir sollen das tolerieren und akzeptieren, wir kriegen Strafen, aber ihr fliegt in die Karibik?‘ Moment.”
Philine Conrad im Gespräch mit HAINTZ.media (Min 27:30)
Im dem an die Aufführung anschließenden Gespräch gehen wir neben inhaltlichen Aspekten und Beweggründen auch näher auf den Entstehungsprozess mit seinen Hürden ein. Die Künstler streuen einen Funken der Hoffnung, dass es noch zu einer Wende in der Kulturszene kommen wird, Tabus nicht länger zuzulassen.