Ein Beitrag von Felix Feistel und Dejan Lazić
Die Gründung des Bündnis Sarah Wagenknecht hat in einigen Kreisen große Euphorie ausgelöst und Hoffnungen geweckt. Zehn Monate später ist Ernüchterung eingetreten. Nach den ersten Landtagswahlen ringt das BSW um eine Beteiligung in Koalitionen, und agiert dort als Mehrheitsbeschaffer für CDU und SPD, und verrät dabei auch seine angepriesenen Ideale. Wie schon die Grünen und die AfD zuvor, hat sich das BSW zu einem Teil des politischen Establishments machen lassen, nur um an Posten zu gelangen, und ein bisschen mitbestimmen zu können. Vorgeworfen wird dem BSA auch ein Demokratie-Defizit, indem die Parteispitze Personal bestimmt und die Landesverbände dirigiert. In Hamburg ziehen eine Reihe von Einzelpersonen aus der Enttäuschung durch BSW bereits die ersten Konsequenzen. So wurde für die kommende Bürgerschaftswahl eine alternative Wahlliste namens „Die Wahl “ gegründet, und treten dabei für Frieden und soziale Gerechtigkeit an.
Dabei handelt es sich aber nicht um eine neue Partei, sondern um eine unabhängige Wählervereinigung. Damit stellt Hamburg eine Alternative zu dem klassischen Parteiensystem vor – und damit eine Möglichkeit, die Hegemonie der Parteien zu brechen. Bislang spielen Wählervereinigungen lediglich auf lokalpolitischer Ebene eine Rolle. Jedoch wäre es auch denkbar, sie auf Landes- und Bundesebene zu etablieren. Gegenüber Parteien haben unabhängige Wählervereinigungen mehrere Vorteile. So erfüllen sie das Bedürfnis der Menschen nach politischer Beteiligung. Die Menschen bringen sich niedrigschwellig und ehrenamtlich in die Vereinigungen ein, um konkrete, politische Anliegen zu bearbeiten.
Anders als traditionelle Parteien, die häufig als zu stark ideologisch geprägt und von überregionalen Interessen gesteuert wahrgenommen werden, setzen Wählervereinigungen auf einen pragmatischen, bürgernahen Ansatz. Diese grundlegende Ausrichtung spiegelt sich in verschiedenen Aspekten ihrer Organisation und Arbeitsweise wider. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal liegt in der Organisationsstruktur. Während traditionelle Parteien typischerweise hierarchisch aufgebaut sind und über komplexe, mehrstufige Entscheidungswege verfügen, zeichnen sich Wählervereinigungen durch flache Hierarchien und flexible Strukturen aus. Diese organisatorische Schlankheit ermöglicht es ihnen, schnell und unmittelbar auf lokale Bedürfnisse und Herausforderungen zu reagieren. Die Konzentration auf die kommunale Ebene erlaubt zudem eine intensivere Auseinandersetzung mit ortsspezifischen Themen und Problemstellungen. Hinzu kommt, dass eine Wählervereinigung keinen Fraktionszwang kennt, wie ihn Parteien klassischerweise haben. Die Abgeordneten sind hier also, wie vom Grundgesetz gefordert, tatsächlich nur ihrem Gewissen unterworfen.
Die Ressourcenausstattung unterscheidet sich ebenfalls grundlegend. Während Parteien oft über hauptamtliche Mitarbeiter, umfangreiche finanzielle Mittel und etablierte Infrastrukturen verfügen, basiert die Arbeit von Wählervereinigungen hauptsächlich auf ehrenamtlichem Engagement und lokaler Unterstützung. Was zunächst als Nachteil erscheinen mag, erweist sich häufig als Stärke: Die Abhängigkeit von bürgerschaftlichem Engagement führt zu einer engeren Verbindung mit der Gemeinde und einer stärkeren Verankerung in der lokalen Bevölkerung.
Besonders deutlich werden die Unterschiede im Bereich der ideologischen Ausrichtung. Traditionelle Parteien sind durch ihre Grundsatzprogramme und überregionalen Strategien in ihrer Positionierung oft eingeschränkt. Wählervereinigungen hingegen können ihre Standpunkte flexibel an lokale Gegebenheiten anpassen. Diese ideologische Ungebundenheit ermöglicht es ihnen, pragmatische Lösungen zu entwickeln, die sich ausschließlich an den konkreten Bedürfnissen der Gemeinde orientieren. Statt parteipolitischer Doktrinen stehen praktische Erwägungen und die direkte Wirksamkeit von Maßnahmen im Vordergrund.
Die Entscheidungsfindungsprozesse in Wählervereinigungen folgen ebenfalls einem anderen Muster. Während Parteien oft durch lange Abstimmungsketten und die Notwendigkeit zur Koordination mit übergeordneten Ebenen gekennzeichnet sind, können Wählervereinigungen direkter und schneller agieren. Die Nähe zu den Bürgern ermöglicht zudem eine unmittelbare Einbindung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse. Diese Form der partizipativen Demokratie stärkt das Vertrauen in politische Entscheidungen und erhöht deren Akzeptanz in der Bevölkerung.
Ein weiterer bedeutender Vorteil von Wählervereinigungen liegt in ihrer Funktion als „Schule der Demokratie“. Die niedrigschwelligen Beteiligungsmöglichkeiten und der direkte Bezug zu lokalen Themen erleichtern den Einstieg in politisches Engagement. Bürger erleben unmittelbar, wie ihre Mitarbeit konkrete Veränderungen bewirken kann. Diese Erfahrung demokratischer Selbstwirksamkeit ist besonders wertvoll für die Stärkung der lokalen Demokratie und die politische Bildung.
Die praktischen Vorteile von Wählervereinigungen zeigen sich besonders in der Effizienz ihrer Arbeit. Durch kurze Entscheidungswege und den Fokus auf konkrete Problemlösungen können sie oft schneller und zielgerichteter handeln als traditionelle Parteien. Die geringen Verwaltungskosten und der effektive Mitteleinsatz ermöglichen zudem eine ressourcenschonende Politik. Die Bereitschaft zum Experimentieren mit innovativen Lösungsansätzen trägt zusätzlich zur Entwicklung kreativer Antworten auf lokale Herausforderungen bei.
Einige dieser Vorzüge bestehen allerdings hauptsächlich auf lokaler Ebene. Geht es um Landes-, oder Bundespolitik, wird die Struktur der Wählervereinigungen strapaziert. Büroräume für die Abgeordneten müssen gemietet, Abgeordnete dauerhaft in Berlin oder den jeweiligen Landeshauptstädten bleiben. Auch geht der direkte Kontakt zu den Wählern verloren. Fraglich ist zudem, wie Wählervereinigungen auf Landes-, oder Bundesebene an die nötigen Mehrheiten kommen können, um tatsächlich in die Parlamente einzuziehen.
Zu dem finanziellen Aspekt lässt sich anmerken, dass jede Fraktion im Landtag oder Bundestag mit Finanzmitteln ausgestattet wird. Diese können genutzt werden, um Büroräume zu mieten und den Abgeordneten ihre Ausgaben zu zahlen. Diese Finanzmittel bemessen sich nach dem Anteil der bei Wahlen erlangten Stimmen. Zur Bewahrung der Nähe zu den Wählern wäre es denkbar, ein Rotationsprinzip einzuführen. Abgeordnete aus den Wählervereinigungen könnten sich im Laufe einer Legislaturperiode abwechseln, und immer wieder ausgetauscht werden. Auf diese Weise ist kein Abgeordneter länger als einige Tage bis Wochen im Parlament, was die Entfernung von den Wählern erschwert. Auch Korruption kann auf diese Weise begrenzt werden, da die Lobbyisten immer neue Ansprechpartner von sich überzeugen müssen. Zudem gibt es heute durch das Internet die Möglichkeit, mit den Wählern aus der Ferne zu kommunizieren, und ihre Ansichten zu den behandelten Themen einzuholen.
Eine Wahl von Abgeordneten in den Bundestag oder die Landesparlamente ist zudem über die Direktkandidaten möglich. Diese werden in jedem Wahlkreis direkt gewählt, und müssen daher nicht so viele Stimmen holen, wie die Parteien sie für ihre Listenkandidaten benötigen. Um aber Stimmen zu bündeln wäre es möglich, landes-, oder bundesweit ein Bündnis von Wählervereinigungen zu gründen, das lediglich in der Hinsicht der Stimmen wie eine Partei funktioniert. Inhaltlich müssen die Mitglieder sich dabei nicht einig sein. Es genügt, wenn sie das Ansinnen eint, die traditionellen Parteien zu entmachten, und das Volk an politischen Prozessen zu beteiligen, sodass eine tatsächliche Demokratie entstehen kann.
Auf diese Weise ist es auch möglich, nicht aufgrund von Fraktionszwang oder aus fragwürdigen Prinzipien heraus die Zusammenarbeit mit Parteien zu verweigern. Stattdessen könnten die Abgeordneten der Wählervereinigung themenbezogen und nach eigenen Interessen mit verschiedenen Parteien zusammenarbeiten, ohne eine Koalition eingehen zu müssen, und dann an diese gebunden zu sein. Koalitionen wären damit in Zukunft im besten Fall vollkommen überflüssig. Stattdessen findet eine themenbezogene Zusammenarbeit in Abstimmung mit den Wählern statt.
Wählervereinigungen könnten dazu beitragen, die Demokratie in Deutschland endlich einen Schritt voranzubringen, und die Parteienoligarchie zu brechen. Sie wären eine Möglichkeit, die Menschen direkter an politischen Prozessen zu beteiligen, und ihre Sicht auf die Themen in die Parlamente zu bringen. In Hamburg macht „Die Wahl“ dabei den Anfang für die Bürgerschaftswahl im kommenden Frühling. Dazu benötigt sie aber zunächst Unterschriften, um überhaupt an der Bürgerschaftswahl teilnehmen zu können. Vor dem Hintergrund der nun vorgezogenen Bundestagswahlen wäre es sinnvoll, Wählervereinigungen zu gründen, und in einem überregionalen Bündnis zu vereinen. Dies müsste aufgrund der vorgezogenen Wahlen nun allerdings sehr schnell umgesetzt werden.
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Felix Feistel, Jahrgang 1992, studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Völker- und Europarecht. Schon während seines Studiums war er als Journalist tätig; seit seinem Staatsexamen arbeitet er hauptberuflich als freier Journalist und Autor. So schreibt er für manova.news, apolut.net, multipolar-magazin.de sowie auf seinem eigenen Telegram-Kanal. Eine Ausbildung zum Traumatherapeuten nach der Identitätsorientierten Psychotraumatheorie und -therapie (IoPT), als der er auch arbeitet, erweiterte sein Verständnis von den Hintergründen der Geschehnisse auf der Welt.
Dejan Lazić, Sozialökonom und Wirtschaftsjurist, Hochschuldozent für Staats- u. Migrationsrecht (2002-2022), CEO einer internationalen Rechts- und Wirtschaftsberatungsgesellschaft. Veröffentlichungen u.a. bei nachdenkseiten.de und norberthaering.de.