Ein Gastbeitrag von Melchior Ibing
Frühjahr 1918 – das Zarenreich war nicht mehr. Der Krieg im Osten war für die Mittelmächte gewonnen. 1917 war ein Jahr schier unglaublicher Verluste an Frachtschiffen gewesen, dem Rückgrat der westlichen Kriegsmaschine. Und an der Westfront war den Deutschen nun der Durchbruch gelungen. Was jahrelang unter schrecklichsten Verlusten immer wieder vergeblich versucht worden war, gelang nun mit neuer Taktik und den durch Russlands Niederlage frei gewordenen Truppen.
Eine Zeit lang in diesem Frühjahr konnte man meinen, das Deutsche Reich stünde kurz vor einem der erstaunlichsten Siege der Geschichte.
Ein halbes Jahr später war der Krieg vorbei. Dasselbe Reich, von dem man gerade noch den Eindruck gewinnen konnte, dass es gegen alle Widrigkeiten siegen würde, hatte am 9. November 1918 kapituliert.
Als die deutschen Truppen heimkehrten, hielten sie eine seltsame Parade in Berlin ab. Friedrich Ebert, der neue Reichskanzler der SPD, sprach die schicksalhaften Worte: „Kein Feind hat euch überwunden“. Diese Worte, zusammen mit dem Eindruck aus dem Frühjahr, halfen eine Legende zu etablieren. Am Rande des Sieges stehend sei der Armee, von Aufrührern an der Heimatfront, ein Dolch in den Rücken gestoßen worden. Die Dolchstoßlegende war geboren. Was ist dran an der Legende? Wurde uns auch hier, wie mit der falschen Erzählung der deutschen Alleinschuld am Kriegsausbruch 1914, Unsinn beigebracht? War Deutschland wirklich im Siegen begriffen?
Um diese Frage zu beantworten, muss man die strategische Gesamtlage im Verlauf der Jahre 1917/1918 genauer betrachten.
Im Jahre 1917 waren die Mittelmächte in einer ziemlich verzweifelten Situation. Es gab keine Möglichkeit mehr Kräfte für eine große Offensive zusammenzuziehen, denn die verfügbaren Ressourcen reichten so gerade aus die Fronten zu halten. Gleichzeitig litt man massiv unter der Seeblockade der Royal Navy. Nach der Seeschlacht am Skagerrak war klar, dass diese nicht zu brechen war. Doch ganz ausweglos war es nicht. Zu Land und zur See sah man jeweils eine große Möglichkeit den Krieg zu gewinnen. Zu Land war es die Ausschaltung des maroden und in revolutionären Wehen liegenden Russlands als Kriegspartei. Dadurch würden Kräfte frei werden, um an der Westfront die Entscheidung herbeizuführen. Zur See meinte man, mit Hilfe von U-Booten die Versorgungswege Britaniens abschneiden zu können. Die Rechnung schien einfach. Wenn man mehr Schiffe versenkt, als der Gegner nachbauen kann, kann England ausgehungert werden. Beide Wege wurden 1917 in Angriff genommen.
Die Ausschaltung Russlands gelang. Der im Schweizer Exil lebende Lenin wurde, zusammen mit weiteren Revolutionären, nach St. Petersburg geschleust. Und er lieferte. Im Oktober 1917 gelang ihm die Revolution, Russland versank in einem schrecklichen Bürgerkrieg. Zahlreiche deutsche Divisionen konnten an die Westfront verlegt werden.
Weniger gut lief der uneingeschränkte U-Boot-Krieg. Zwar erreichten die U-Boote enorme Versenkungszahlen, doch gab es einen unerwünschten, wenn auch absehbaren, Nebeneffekt. Denjenigen, die die USA in den Krieg führen wollten, wurde der Weg hierzu geebnet und sie nutzten erfolgreich die Gelegenheit. Deutschland hatte nun einen weiteren Gegner. Noch dazu einen mit schier unendlichen Ressourcen an Menschen, Material und Industriekapazität. Damit nicht genug, lernte die Royal Navy endlich der U-Boot-Bedrohung beizukommen. Einerseits entwickelte man neue Mittel zur U-Boot-Bekämpfung. Andererseits und entscheidender fasste man die bisher einzeln fahrenden Handelsschiffe in eskortierten Konvois zusammen. Zwar bot so ein Konvoi einem U-Boot viele Ziele, doch er war bewacht und der Rest des Ozeans war leer. Wege, die Boote auf die Konvois zu konzentrieren und diese vernichtend zu bekämpfen, konnten nicht schnell genug entwickelt werden.
Die Reichsführung, die inzwischen eine Militärdiktatur unter Ludendorff und Hindenburg war, sah allerdings immer noch eine letzte Möglichkeit zu siegen. Die Entscheidungsschlacht im Westen sollte die Alliierten zu einem für Deutschland vorteilhaften Verhandlungsfrieden zwingen, bevor sich die Macht der USA entscheidend auswirken konnte. So stürmten die deutschen Soldaten die alliierten Schützengräben und durchbrachen die Front. Zum ersten Mal seit 1914 wurde der Krieg im Westen zum Bewegungskrieg, in dem sich die Deutschen überlegen wähnten. Doch schnell waren die längst erschöpften, schlecht ernährten Truppen am Ende. Die Fronten verhärteten sich wieder und die Westmächte gingen zum methodischen Angriff über. Deutschland hungerte, die Armee hungerte. Weder sie noch die stolze Kriegsmarine konnte Abhilfe schaffen.
Nun, man konnte sich noch Wundertaten erträumen, doch als deutsche Soldaten damit begannen, sich lieber in großer Zahl zu ergeben als weiterzukämpfen, wurden solche Träume zu Hirngespinsten. Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Frühjahrsoffensive begann endlich auch die Heimatfront zu bröckeln. Die Menschen hatten genug gelitten und die Sinnlosigkeit der Fortsetzung des Krieges wurde dem Volk immer klarer. Auch Ludendorff und Hindenburg konnten bald nicht mehr leugnen, weder vor sich selbst noch vor dem Kaiser, dass der Krieg verloren war. Als die Admiralität noch einen letzten verzweifelten und völlig hoffnungslosen Versuch wagen wollte, war es endgültig vorbei. Für die Selbstopferung der Hochseeflotte standen die Mannschaften nicht zur Verfügung. Die Kieler Matrosen wagten den Aufstand. Revolution lag in der Luft. Deutschland kapitulierte.
Die Aufstände an der Heimatfront brachen zu einem Zeitpunkt aus, zu dem die militärische Lage bereits ausweglos war. Mag der Krieg bis Mai 1918 noch in der Schwebe gehangen haben, so war danach jede Hoffnung verloren. Die Aufstände waren Symptom der Niederlage, nicht aber ihre Ursache. Die Dolchstoßlegende verdreht dies und allzu viele, gerade auch Frontsoldaten, die so viel gegeben hatten, flüchteten sich in sie. Die Art und Weise, wie dann mit Deutschland umgegangen wurde. Die Schmach von Versailles, die erdrückenden Reparationen und die von deutschen Politikern unterzeichnete Lüge der alleinigen Kriegsschuld. All dies wirkte, zusammen mit der Dolchstoßlegende, in fataler Weise fort. Als man dem französischen Marschall Foch den Vertrag von Versailles zeigte, sprach er Worte von erstaunlich prophetischer Präzision: „Das ist kein Friedensvertrag. Das ist ein Waffenstillstand für 20 Jahre.“
Die richtige Lehre für Deutschland wäre schon damals gewesen, dass es sich immer und unter allen Umständen um Frieden bemühen muss. Doch es brauchte noch einen Weltkrieg bis es seine Lektion, zumindest zeitweise, lernte. Und während die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs noch leben, gerät diese große, bitter gelernte Lektion zunehmend in Vergessenheit.
2 Antworten
„Die richtige Lehre für Deutschland wäre schon damals gewesen, dass es sich immer und unter allen Umständen um Frieden bemühen muss. “
Das ist, nach dem vorangegangenen geschichtlichen Abriss, eine ziemlich abrupte und willkürliche Schlussfolgerung, zumal die Ursachen des 1. WK nicht mal gestreift werden.
Wer sich damit beschäftigen mag, dem empfehle ich „Welt im Umbruch“ von Markus Osterrieder. Osterrieder ist Historiker und hat in 14 Jahren Arbeit ein 1.700 Seiten starkes Werk verfasst, das bezogen auf Zusammenhänge und Prozesse wahrhaft nicht unberücksichtigt und unbelegt lässt. Osterrieder ist zudem Anthroposoph, was zur Folge hat, dass er die gesellschaftlichen Konzepte der damaligen Zeit und die angloamerikanischen Einflussnahmen in der „Gestaltung“ Osteuropas nennt und erschöpfend belegt. ich bin kein Anthroposoph, aber das Werk hat mir Zusammenhänge eröffnet, von denen ich zuvor nichts wusste. Wer wahrhaftig die Ursachen für Kriege begreifen will, muss die damit verbundenen Ideologien und Akteure kennen, sonst gerät er in allzu simple Schein-Lösungen, die ungewollt dann doch der Alleinschuld, dem alten Narrativ vom stets aggressiven Deutschland aufsitzen.
Auch sehr lesenswert und ein Augenöffner zum Thema 1. und 2. Weltkrieg und die Verantwortung Deutschlands und der Alliierten: Gerd Schultze-Rohnhof, 1939-Der Krieg der viele Väter hatte, Kopp Verlag