Ein Beitrag von Dejan Lazić
In einer Zeit wachsender militärischer Eskalation zwischen der NATO/EU und Russland ist Serbiens geopolitische Unabhängigkeit ein Störfaktor für den Westen, gerät aber zunehmend unter Druck.
Der Hintergrund der Proteste
Am 1. November 2024 stürzte das Betondach des Hauptbahnhofs in Novi Sad ein und begrub Dutzende Menschen unter sich. 15 Menschen kamen dabei ums Leben. Das Unglück erschütterte die Öffentlichkeit und löste in Novi Sad und der Hauptstadt Belgrad spontane Proteste aus. Viele Serben machen Korruption, Pfusch am Bau und staatliches Versagen für die Tragödie verantwortlich. Aus zunächst lokalen Studentendemonstrationen entwickelte sich innerhalb weniger Wochen eine landesweite Protestbewegung. Seit über vier Monaten gehen täglich Zehntausende auf die Straßen, unterstützt von Lehrenden, Bauern und anderen Bevölkerungsgruppen. Beobachter sprechen bereits von der größten Protestwelle in Serbien seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000. Die meist jungen Demonstrierenden fordern nicht nur personelle Konsequenzen, sondern grundlegende Rechtsstaatlichkeit und die Bestrafung korrupter Amtsträger. Die Forderungen der Protestierenden konzentrieren sich auf drei Hauptpunkte:
1. Aufklärung der Tragödie von Novi Sad und juristische Konsequenzen für Verantwortliche: Die Demonstranten verlangen unabhängige Ermittlungen und die strafrechtliche Verfolgung von Regierungsvertretern und Bauunternehmen, die an der fehlerhaften Konstruktion des Bahnhofs beteiligt waren.
2. Bekämpfung von Korruption und Machtmissbrauch: Seit Jahren kritisieren unabhängige Medien und NGOs das Netzwerk aus politischen Eliten und wirtschaftlichen Interessengruppen, das in Serbien nahezu alle Bereiche kontrolliert. Die Protestierenden fordern eine tiefgreifende Reform des Justizsystems und unabhängige Kontrollorgane.
3. Freiheit der Medien und Schutz der Demokratie: Unter Vučić hat sich die Medienlandschaft in Serbien drastisch verändert. Kritische Journalisten und oppositionelle Stimmen werden systematisch unter Druck gesetzt. Die Demonstranten fordern ein Ende der staatlichen Einflussnahme auf die Medien und eine Stärkung der demokratischen Institutionen.
Beograd Serbia 2025 pic.twitter.com/oQp2YyBPr0
— Dejan Lazic (@DejanLazic_DeLa) March 16, 2025
Reaktionen der serbischen Regierung
Die serbischen Behörden leiteten Ermittlungen gegen Verantwortliche des Bahnhofumbaus ein. Wenige Wochen nach dem Einsturz wurden 11 Personen festgenommen, darunter der zwischenzeitlich zurückgetretene Bauminister Goran Vesić. Dennoch rissen die Proteste nicht ab und lösten eine landesweite politische Krise aus. Ende Januar 2025 kündigte Premierminister Miloš Vučević unter dem Eindruck der anhaltenden Massenproteste seinen Rücktritt an, um „die Spannungen in der Gesellschaft nicht weiter anzuheizen“. Vučević – einst Bürgermeister von Novi Sad zur Zeit der Bahnhofssanierung – übernahm damit politisch die Verantwortung. Zuvor war es vor einem SNS-Parteibüro in Novi Sad zu einem Übergriff auf protestierende Studenten gekommen, den Vučević als „Terror gegen Studierende“ verurteilte. Mit seinem Rücktritt und der parallel erfolgten Absetzung des Novi Sader Bürgermeisters hoffte die Regierung, die Lage zu beruhigen. Präsident Aleksandar Vučić gestand angesichts des Drucks ein, die Botschaft der Demonstranten verstanden zu haben, und stellte vorgezogene Parlamentswahlen in Aussicht. Zugleich behaupteten Behörden, die Schlusskundgebung am 15. März 2025 sei weitgehend friedlich verlaufen; die Polizei bezifferte die Teilnehmerzahl auf rund 107.000 – die größte Demonstration in der serbischen Geschichte. Es gab vereinzelte Zwischenfälle, für die sich Regierung und Opposition gegenseitig die Schuld zuwiesen. So meldete Vučić 22 Festnahmen wegen versuchter Gewalttaten, während Protestorganisatoren regierungsnahe Provokateure für gezielte Störungen verantwortlich machten.
Geopolitische Interessen und Einflussnahmen
Die serbische Regierung deutet an, hinter den Unruhen könnten ausländische Akteure stecken. Ende Februar beschuldigte der russlandfreundliche Vize-Premier Aleksandar Vulin westliche Geheimdienste, einen vom Ausland gesteuerten „Farbrevolutions“-Umsturz in Serbien zu betreiben. Westliche Dienste versuchten, so Vulins Büro, durch die Unterstützung der monatelangen Proteste die Regierung in Belgrad zu stürzen. Konkrete Belege für solche Behauptungen wurden jedoch nicht vorgelegt. Unabhängige Analysten bezweifeln diese Darstellung ohnehin: „Keine Stranci (Ausländer) werden Vučić stürzen“, urteilt etwa der deutsche Politologe Alexander Rotert, im Gegenteil sähen Berlin und Brüssel in ihm fatalerweise einen Anker der Stabilität in der Region. Tatsächlich galt Vučić westlichen Regierungen lange als Garant von Stabilität im Westbalkan – trotz autoritärer Führung. So kooperierte seine Regierung eng mit internationalen Konzernen und EU-Staaten, etwa bei geplanten Lithium-Projekten im Jadar-Tal, die für die europäische Industrie wichtig sind. Westliche Kritik an autoritären Tendenzen blieb häufig verhalten, solange Vučić als verlässlicher Partner in Fragen wie dem Kosovo-Konflikt betrachtet wurde. Russland seinerseits steht fest an Vučićs Seite: Moskau betrachtet Serbien als traditionellen Bündnispartner und unterstützt Belgrad diplomatisch, insbesondere bei der Nichtanerkennung Kosovos. Hochrangige serbische Politiker wie Vulin pflegen enge Kontakte zum russischen Geheimdienstapparat – Vulin wurde 2023 in den USA wegen „bösartiger“ russischer Einflussnahme sanktioniert, suchte aber demonstrativ weiterhin den Schulterschluss mit Moskau. Diese Verbindungen nähren westliche Befürchtungen, Belgrad könne zum Einfallstor für russische und chinesische Interessen in Europa werden.
In der Gemengelage um Serbien wird deutlich, wie realpolitische Interessen auf beiden Seiten im Vordergrund stehen. Der Westen – insbesondere die EU – hat ein klares Interesse, Serbien aus der Umlaufbahn Russlands und Chinas nicht entgleiten zu lassen. Stabilität auf dem Balkan, die Eindämmung russischen Einflusses und die Sicherung einer pro-westlichen Ausrichtung sind strategische Ziele. Um diese zu erreichen, kommen neben offenen diplomatischen Wegen auch verdeckte Strategien in Betracht. Historisch ist bekannt, dass westliche Regierungen und Stiftungen in Serbien oppositionelle Gruppen, freie Medien und NGOs unterstützt haben (etwa beim Sturz des Milošević-Regimes 2000). Zwar geschieht dies meist offiziell (etwa über EU-Programme oder den National Endowment for Democracy), doch serbische Regierungsvertreter unterstellen immer wieder Geheimdienstaktivitäten.
Präsident Vučić behauptete jüngst, westliche Geheimdienste hätten Massenproteste in Belgrad angefacht, um ihn zu stürzen – Belege dafür legte er jedoch keine vor. Gleichwohl ist es realistisch, dass westliche Akteure informelle Kanäle nutzen, um Serbiens Kurs zu beeinflussen: Das kann das Teilen von Informationen über Korruptionsfälle mit serbischen Medien sein oder auch die Konditionierung von Krediten im Hintergrund. Ebenso versucht man, Serbien durch Soft Power-Maßnahmen im westlichen Lager zu halten – z. B. durch Bildungsprogramme, Städtepartnerschaften oder den kulturellen Austausch, der oft außerhalb der großen Politik stattfindet.
Serbien zwischen EU, Russland und China
Auf serbischer Seite verfolgt die Führung eine Strategie der Multipolarität: Sie möchte von allen Seiten Vorteile erlangen – westliche Gelder und Marktzugang, russische Energie, chinesische Investitionen – und damit eigene Handlungsfreiheit bewahren. In diesem Spannungsfeld sind auch verdeckte Manöver denkbar: Etwa könnte Moskau insgeheim Serbien wirtschaftlich unterstützen, um es vom Westen fernzuhalten (was teils durch günstige Gasdeals bereits geschieht), oder China könnte über informelle Netzwerke Einfluss auf serbische Entscheidungsträger nehmen. Westliche Geheimdienste wiederum beobachten genau, ob Serbien zur Drehscheibe für Sanktionsumgehung wird, und würden in so einem Fall vermutlich Gegenmaßnahmen einleiten.
Vučić verfolgt seit Jahren eine balancierte Außenpolitik und versucht, zwischen Brüssel, Washington, Moskau und Peking zu lavieren. Seit dem Krieg in der Ukraine steht dieses Modell unter wachsendem Druck. Einerseits fordert die EU von Serbien unmissverständlich die Angleichung an ihre Außenpolitik. Insbesondere die Weigerung Belgrads, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen, bleibt „das Hindernis über allen Hindernissen“ auf dem Weg Serbiens in die EU, wie Premierministerin Ana Brnabić 2023 einräumte. Zwar verurteilte Serbien den Einmarsch Russlands in der UNO, hat aber als einziges EU-Beitrittskandidatenland keine Strafmaßnahmen gegen Moskau ergriffen. Vučić beharrte auf einem neutralen Kurs und nannte Russland einen „wahren Freund in schwierigen Zeiten“ – man werde so lange wie möglich keine Sanktionen verhängen. Diese Haltung sorgt für Spannungen mit Brüssel. Die EU macht deutlich, dass Serbiens Nicht-Ausrichtung an den Sanktionen den Integrationsprozess ernsthaft gefährdet. Gleichzeitig ist Serbien ökonomisch und energiepolitisch eng mit Russland verflochten: Das Land bezieht sein Erdgas fast vollständig aus Russland, und der Ölkonzern NIS in Serbien gehört mehrheitlich Gazprom. Politisch zählt Belgrad auf Moskaus Unterstützung in der Kosovo-Frage, wo Russland Serbiens Anspruch vehement verteidigt.
Neben Russland ist China zum zweiten wichtigen Partner für Serbien avanciert. Peking investiert Milliarden in serbische Infrastruktur, Energie und Industrie – China ist mittlerweile Serbiens größter ausländischer Investor. Im Oktober 2023 unterzeichneten beide Länder ein Freihandelsabkommen, das ab Juli 2024 in Kraft tritt. Es sieht vor, dass 95 % der serbischen Exportgüter – von Äpfeln bis Rindfleisch – zollfrei nach China geliefert werden können. Präsident Vučić lobte den Deal als Garantie für Serbiens Zukunft. Das Abkommen, Teil der chinesisch-serbischen „Gemeinsame Zukunft“-Partnerschaft, vertieft die ohnehin engen wirtschaftlichen und politischen Bande. Beobachter werteten den Schritt auch als Affront gegen Brüssel, da die EU zeitgleich über höhere Zölle auf chinesische E-Autos diskutierte. Schon jetzt ist China in Schlüsselprojekten präsent: Das Bahnprojekt Belgrad–Budapest etwa wird von chinesischen Firmen umgesetzt. Auch die Renovierung des Novi Sad Bahnhofs erfolgte im Rahmen eines größeren Abkommens mit chinesischen Bauunternehmen. Nach dem tödlichen Einsturz machten Kritiker nicht nur personelle Inkompetenz, sondern die Intransparenz dieser Deals mit verantwortlich. „Goran Vesić gehört zu den Hauptverantwortlichen für die massive Korruption im Bauwesen, für die Politik der Geheimverträge mit Investoren – und das fordert nun Menschenleben“, klagte Oppositionspolitiker Radomir Lazović nach dem Unglück.
Kapitalflüsse, Sanktionen und Geopolitik
Tatsächlich werden der serbischen Regierung immer wieder mangelnde Transparenz und Vetternwirtschaft vorgeworfen, besonders bei Großprojekten mit ausländischen Partnern. Im Dezember 2024 deckte Amnesty International auf, dass Serbiens Sicherheitsbehörde BIA systematisch Oppositionelle ausspioniert – ein Bericht spricht von „digitaler Repression“ gegen die Zivilgesellschaft. Die Protestbewegung verlangt daher nicht nur personelle Änderungen, sondern institutionelle Reformen für mehr Rechtsstaatlichkeit und Rechenschaft. Auch die EU knüpft finanzielle Unterstützung zunehmend an hegemoniale „Fortschritte bei Demokratie und Rechtsstaat. Brüssel ist schon jetzt der größte Geldgeber Serbiens: Über den IPA-Hilfsfonds flossen 2014-2020 rund 1,5 Milliarden € an Fördermitteln nach Serbien. Doch die Geduld der EU schwindet. Im Mai 2024 verabschiedete das Europaparlament eine Resolution, die die Aussetzung von EU-Geldern forderte, falls Belgrad Empfehlungen zur Wahlreform ignoriere oder Wahlbetrug begünstige. Zudem beschlossen die EU-Außenminister, den Beitrittsprozess einzufrieren, wenn Serbien das kürzlich vereinbarte Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen mit dem abtrünnigen Kosovo nicht umsetze.
Bewertung der Zusammenhänge
Serbiens Annäherung an Russland und China steht im Westen unter genauer Beobachtung. Realpolitisch wird Belgrad wohl weiterhin einen Mittelweg suchen, solange möglich. Doch die Instrumente des Westens – von Finanzhilfen über diplomatischen Druck bis zu soft power und gelegentlicher Geheimdiplomatie – sind darauf ausgerichtet, Serbien perspektivisch im westlichen Lager zu halten. Verdeckte Strategien werden möglicherweise durchgeführt, sind auch nicht unwahrscheinlich, betrachtet man die Vergangenheit auf dem Balkan. Wichtig ist festzuhalten, dass keine Seite rein ideologisch handelt: Es geht um Einfluss, Sicherheit und wirtschaftliche Vorteile.
Die Verbindungen zwischen Finanzpolitik und Geostrategie sind eng. Trumps Kürzungen bei USAID zeigen, wie innenpolitische Ziele die globale Einflussfähigkeit der USA verringern können – was wiederum anderen Mächten zugutekommt. Serbiens Beispiel verdeutlicht, dass Kapitalflüsse und Handelsabkommen längst zu geopolitischen Hebeln geworden sind: Wer mit wem Geschäfte macht oder Daten teilt, ist von strategischer Bedeutung. In einer nüchternen, ideologiefreien Betrachtung verfolgen alle Beteiligten letztlich machtpolitische Interessen. Westliche Staaten nutzen Finanzmittel, um Einfluss auszuüben oder zu entziehen; Serbien nutzt seine Position zwischen den Blöcken, um sich Vorteile zu sichern. Verdeckte Taktiken – seien es die Unterstützung von Oppositionen oder geheimdienstliche Absprachen – ergänzen die offenen Maßnahmen, bleiben aber schwer nachweisbar. Es geht daher weniger um Verschwörungen als um kalkulierte Interessenabwägungen: Sowohl die USA unter Trump als auch Serbien unter Vučić haben Finanzströme als Werkzeug ihrer Politik eingesetzt, um ihre geopolitischen Ziele so realistisch wie möglich zu erreichen.
Folgen für die serbische Bevölkerung
Für die serbische Bevölkerung sind die Proteste weit mehr als eine politische Auseinandersetzung – sie sind eine Konfrontation mit einer Realität, die von wirtschaftlicher Unsicherheit, Korruption und wachsender geopolitischer Einflussnahme geprägt ist. Die Demonstranten fordern nicht nur Gerechtigkeit für die Opfer von Novi Sad, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung der politischen Kultur des Landes. Während die Regierung Vučić mit Zugeständnissen wie Rücktritt und der Aussicht auf Neuwahlen versucht, die Lage zu stabilisieren, bleibt unklar, ob die Protestbewegung tatsächlich strukturelle Reformen erzwingen kann. Falls die Bewegung erfolgreich ist, könnte sie das Machtmonopol der Regierungspartei aufbrechen und eine Neuordnung der politischen Landschaft Serbiens einleiten. Doch wenn Vučić die Proteste übersteht und es schafft, das Land erneut zu konsolidieren, wird dies die autoritären Tendenzen seiner Herrschaft weiter festigen. Zugleich steht Serbien unter massivem externem Druck. Die EU könnte finanzielle Hebel ansetzen, um Belgrad zu einer eindeutigen geopolitischen Entscheidung zu zwingen – sei es durch Kürzungen von Vorbeitrittshilfen oder wirtschaftliche Sanktionen. Auch Russland und China beobachten die Situation genau: Ein geschwächtes Serbien könnte für Moskau bedeuten, einen treuen Partner zu verlieren, während Peking seine wirtschaftlichen Interessen wahren will.
Für die Menschen in Serbien bleibt die Unsicherheit bestehen. Der Ausgang der Proteste wird nicht nur darüber entscheiden, ob Vučićs Regierung Bestand hat, sondern auch, wie unabhängig Serbien in den kommenden Jahren seinen eigenen Kurs zwischen Ost und West gestalten kann. Die serbische Bevölkerung ist gefangen zwischen dem Wunsch nach echter Reform und den geopolitischen Interessen der Großmächte – eine Situation, die sie bereits aus ihrer langen Vergangenheit kennt.
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht zwingend die Ansichten der Redaktion von HAINTZmedia wider. Rechte und inhaltliche Verantwortung liegen beim Autor.
Dejan Lazić, Sozialökonom und Wirtschaftsjurist, Hochschuldozent für Staats- u. Migrationsrecht (2002-2022), CEO einer internationalen Rechts- und Wirtschaftsberatungsgesellschaft. Als Gründungsmitglied des BSW machte er sich vor allem als scharfsinniger parteiinterner Kritiker einen Namen: Ein „BSW-Rebell“ mit Prinzipien.