Im ersten Teil von „Bastards of YU-topia“ haben wir gesehen, wie stark die Idee Jugoslawiens im kulturellen Gedächtnis und der emotionalen Identität vieler Menschen auf dem Balkan weiterlebt. Doch was geschähe, wenn aus dieser nostalgischen Sehnsucht reale Politik würde? Wir wagen eine visionäre Analyse: Welche geopolitischen und wirtschaftlichen Chancen böte ein neuer jugoslawischer Staatenbund, der selbstbewusst zwischen globalen Machtblöcken wie EU, USA, China und Russland aufträte? Wäre eine Renaissance der Blockfreien realistisch? Von der Kooperation mit BRICS bis hin zu einer Balkan-Föderation – ein analytischer Ausblick auf eine geteilte, aber mögliche Zukunft.
Geteilte Zukunft: Wirtschaft und Geopolitik eines imaginären Bundes
Angenommen, die Nachfolgestaaten Jugoslawiens würden sich wieder zu einem Staatenbund zusammenschließen – dieser neue Block könnte nicht nur wirtschaftlich als regionale Kraft auftreten, sondern auch außenpolitisch neue Allianzen schmieden. Eine solche neo-jugoslawische Föderation würde strategisch zwischen Ost und West liegen und könnte sich im globalen Machtgefüge als eigenständiger Akteur positionieren. Wie würde sich ein solches geopolitisches Bündnis vernetzen und Vorteile gegenüber den heutigen Großmächten nutzen können?
Allianz mit dem Globalen Süden – BRICS als Alternative?
Ein vereinigter Balkanstaat könnte verstärkt die Kooperation mit dem Globalen Süden suchen, etwa durch Annäherung an die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und neu aufgenommene Mitglieder). Schon heute deutet Serbiens Kurs an, dass eine Orientierung in diese Richtung als Alternative zur EU gesehen wird. So lobte der serbische Vizepremier Aleksandar Vulin das BRICS-Bündnis als „Hoffnung für Serbien“ – eine Allianz von Ländern, die »„Serbien um nichts bitten und mehr bieten können, als es selbst erfordert“«. BRICS stellt keine harten politischen Bedingungen wie die EU:
„Um Mitglied der BRICS zu werden, ist es nicht notwendig, Gesetze zu verabschieden, die außerhalb der Grenzen unseres Landes verfasst wurden … [Man muss] keine Sanktionen gegen irgendjemanden verhängen oder die Verwaltung der Außenpolitik … anderen überlassen“.
Alexsandar Vulin / »KOHA«
Diese Aussage verdeutlicht, dass ein solcher Block die partnerschaftlichen Vorzüge einer BRICS-Kooperation schätzen würde – Zugang zu Märkten und Ressourcen der aufstrebenden Weltmächte, ohne im Gegenzug Souveränität aufgeben zu müssen. Eine Mitgliedschaft oder assoziierte Partnerschaft mit BRICS+ wäre für einen jugoslawischen Bundesstaat daher durchaus denkbar. Dies würde den Balkanstaaten ermöglichen, an Finanz- und Handelsinitiativen des Globalen Südens teilzuhaben (z. B. der New Development Bank der BRICS) und sich gemeinsam mit Schwellenländern für eine multipolare Weltordnung stark zu machen. Die Symbolik wäre beachtlich: Einst gehörte Jugoslawien keinem der Blöcke an – nun könnte sein Erbe wieder in einem Bündnis jenseits der westlichen Allianz aufleben.
Regionales Bündnis: „Balkan-Föderation“ mit den Nachbarn
Eine neue jugoslawische Konföderation könnte zum Kern eines breiteren balkanischen Bündnisses werden. Denkbar wäre eine regionale Allianz, die auch Nachbarstaaten wie Ungarn, Bulgarien, Griechenland, Albanien oder sogar die Türkei einbezieht. Historisch ist die Idee einer „Balkan-Föderation“ nicht neu – bereits in den 1920er-Jahren spielten Visionen eines Zusammenschlusses aus Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland und der Türkei eine Rolle. Damals standen ideologische Ziele im Vordergrund; heute könnten pragmatische Interessen die Länder Südosteuropas näher zusammenrücken lassen.
Zwar sind einige dieser Staaten inzwischen EU-Mitglieder (Griechenland, Bulgarien, Ungarn) oder NATO-Verbündete, doch könnte ein regionales Bündnis parallel zu solchen Mitgliedschaften entstehen. So pflegt Ungarns Regierung unter Viktor Orbán enge Beziehungen zu Serbien – man teilt skeptische Ansichten gegenüber Brüssel und betont die Souveränität kleinerer Staaten. Auch Griechenland hat traditionell gute Verbindungen zu Serbien und könnte in gewissen Fragen als Brückenbauer dienen. Die Türkei wiederum verfolgt eine eigenständige Außenpolitik und versucht, ihren Einfluss auf dem Balkan auszubauen (etwa durch Wirtschaftsinvestitionen und kulturelle Diplomatie in Albanien, Bosnien oder Kosovo). Ein jugoslawischer Staatenbund könnte mit der Türkei gemeinsame Sache machen, wo sich Interessen überschneiden – sei es in der Vermittlung regionaler Konflikte oder bei Wirtschaftsprojekten entlang neuer Handelsrouten. Selbst eine lockere „Balkan-Allianz“ – z. B. im Rahmen eines multilateralen Forums – würde den Beteiligten gegenüber externen Mächten eine geeinte Stimme verleihen.
🇦🇱🇷🇸🇲🇰 Albania, Serbia and North Macedonia have officially established a common labor market starting today, March 1.
— kos_data (@kos_data) March 1, 2024
Citizens of the Open Balkan now have the freedom to work in any of the other member states. pic.twitter.com/tGSxNT7z8n
Ein Vorbild liefert die »Open-Balkan-Initiative« zwischen Serbien, Albanien und Nordmazedonien: Diese 2019 ins Leben gerufene Mini-Schengen-Zone zielte auf einen gemeinsamen Markt mit freiem Verkehr von Waren, Kapital und Personen, als Antwort auf die stockende EU-Integration. Obwohl noch unvollständig, zeigt Open Balkan, dass die Region bereit ist, Eigeninitiative zu ergreifen, um wirtschaftliche Kooperation voranzubringen. In einer erweiterten Vision könnten auch Bulgarien oder Griechenland an solchen Projekten teilnehmen, um die gesamte südosteuropäische Nachbarschaft wirtschaftlich zu vernetzen. Das Ergebnis wäre ein geopolitisch eigenständiger Balkanblock, der innerhalb Europas geschlossen auftritt – als ein »Visegrád« des Südens – und der es externen Großmächten erschwert, einzelne Länder gegeneinander auszuspielen.
Wiederbelebung der Blockfreien: Partnerschaft mit Nordafrika
Angesichts seiner Lage als Schnittstelle könnte ein neuer jugoslawischer Bund auch über Europa hinaus nach Süden blicken. Bereits während des Kalten Krieges war Jugoslawien Mitbegründer der »Blockfreien-Bewegung (Non-Aligned Movement, NAM)«: 1961 versammelte Josip Broz Tito in Belgrad Staaten aus Asien, Afrika und Lateinamerika, um einen dritten Weg abseits von NATO und Warschauer Pakt zu beschreiten. An diese Tradition könnte eine Neo-Balkan-Föderation anknüpfen. Kooperationen mit nordafrikanischen Ländern – etwa Ägypten, Algerien oder Tunesien – wären im Sinne einer „Süd-Süd-Kooperation“ plausibel.
Mit Ägypten bestünde eine historische Achse: Die Freundschaft zwischen Tito und Präsident Gamal Abdel Nasser legte einst den Grundstein für NAM, und heute ist Ägypten wieder auf der Suche nach neuen Allianzen jenseits des Westens (Kairo trat 2024 der BRICS-Gruppe bei). Algerien seinerseits pflegt seit der Unabhängigkeit enge Beziehungen zu Belgrad, strebte zunächst selbst den BRICS-Beitritt an, nahm aber »wieder Abstand davon«.
Ein Schulterschluss zwischen einem Balkan-Bund und einigen nordafrikanischen Staaten könnte einen geopolitischen Brückenkorridor über das Mittelmeer schaffen. Gemeinsam würde man über große Energie- und Rohstoffreserven (algerisches Gas, nordafrikanisches Öl, Balkan-Mineralien) verfügen und aufstrebende Märkte mit Hunderten Millionen Menschen vorweisen können. Politisch würde ein solcher Schulterschluss an die Prinzipien der Blockfreien anknüpfen – nämlich einen dritten Raum zu bilden, in dem sich Staaten zwischen den Blöcken frei bewegen. Gerade in einer Welt, die sich erneut zwischen einem westlichen und einem östlichen Machtzentrum polarisiert, könnten die Blockfreien 2.0 an Bedeutung gewinnen. Die Konferenz zum »60. Jubiläum der NAM« in Belgrad 2021 hat gezeigt, dass über 100 Staaten weiterhin Interesse an dieser Plattform haben.
Sogar die Türkei – zwar NATO-Mitglied, aber mit eigenem globalen Anspruch – »betonte dort«, die Stimme der Blockfreien solle wieder stärker werden. Ein neuer jugoslawischer Staatenbund könnte sich an die Spitze eines neo-blockfreien Netzwerkes zwischen Balkan, Nahost und Afrika stellen. Diese Südallianz würde nicht als Gegner von West oder Ost auftreten, sondern als ausgleichende Kraft: Man könnte flexibel mit allen Großmächten Handel treiben, gemeinsame Entwicklungsprojekte vorantreiben und diplomatisch eine Moderatorenrolle übernehmen, z. B. bei Konflikten im Mittelmeerraum. In gewisser Weise entstünde ein geopolitischer Pufferraum, der die einstige Trennlinie des Eisernen Vorhangs nach Süden erweitert – ein Raum, der weder von Brüssel/Washington noch von Moskau/Peking dominiert wird.
Vorteile eines neuen Wirtschaftsraums gegenüber den Großmächten
Abschließend stellt sich die Frage, welche Stärken ein solcher vereinter Wirtschaftsraum hätte und wie er sich im Vergleich zu etablierten Großmächten wie der EU, den USA oder China positionieren könnte. Tatsächlich böte ein jugoslawisch-balkanischer Block in Kooperation mit angrenzenden Regionen eine einzigartige Kombination von Vorteilen:
Reiche Ressourcenbasis: Die Balkanregion ist reich an Bodenschätzen und Energiepotenzial. Serbien und Bosnien verfügen über bedeutende Lithium-, Bauxit-, Kupfer- und Kohlevorkommen, die in einer gemeinsamen Strategie gezielt genutzt werden könnten. Allein das geplante »Jadar-Lithiumprojekt« in Serbien könnte »„90 % des aktuellen Lithium-Bedarfs Europas decken“« – ein enormes strategisches Pfund in Zeiten der E-Mobilität. Nordafrikanische Partner wie Algerien würden zusätzlich immense Energieressourcen einbringen: Algerien ist nach Norwegen der »zweitgrößte Erdgasexporteur Europas« und gehört zu den Top 5 der Welt. Diese Rohstofffülle verschafft dem Block Verhandlungsmacht, um sich gegenüber der EU oder China als unverzichtbarer Lieferant zu positionieren.
Wachsende Märkte und Bevölkerung: Ein vereinter Wirtschaftsraum vom Balkan bis Nordafrika könnte Hunderte Millionen Verbraucher umfassen – ein Großteil davon jung und mit steigender Kaufkraft. Die Länder Südosteuropas weisen noch Nachholbedarf in der Entwicklung auf, was hohe Wachstumsraten ermöglicht. Die Weltbank prognostiziert für die Westbalkan-Staaten ein kontinuierliches Wachstum von über »3 %« jährlich – deutlich höher als in vielen EU-Ländern. Kombiniert man dies mit den dynamischen Märkten Nordafrikas (z. B. Ägypten), entstünde ein Absatzmarkt, der für Außeninvestoren attraktiv, aber nicht so gesättigt ist wie Westeuropa oder die USA. Zudem könnten die Bündnisstaaten untereinander Handelsbarrieren abbauen und eine eigene Binnenökonomie stärken, wodurch man weniger abhängig von Importen aus den Großmächten wäre.
Strategische Drehscheibe der Kontinente: Geografisch läge dieser Block an der Schnittstelle von Europa, Asien und Afrika – eine Lage, die keiner der etablierten Großmächte so für sich beansprucht. Die Balkanhalbinsel war immer ein Korridor zwischen Ost und West: Heute verläuft hier ein Teil der Neuen Seidenstraße Chinas. Peking hat den Hafen Piräus in Griechenland und die »Balkanroute nach Mitteleuropa« gezielt ausgebaut, um einen direkten Zugang zum EU-Markt zu sichern). Ein geeinter Balkanbund könnte diese Schlüsselrolle als Transit- und Logistikdrehscheibe ausbauen und kontrollieren. Wer Waren von Istanbul oder Suez nach Europa bringen will, käme an den Häfen und Bahnlinien des Bündnisses kaum vorbei. Ebenso ist die Region ein Energiekorridor: Durch die Türkei und den Balkan verlaufen Pipelines wie die Transanatolische Pipeline (TANAP/TAP) für Erdgas Richtung Europa. Die strategische Lage verleiht dem Block also eine Art Pfand gegenüber EU und USA – ähnlich wie ein „Tor nach Europa“, das man gemeinschaftlich öffnen oder schließen kann. Für China und Russland wäre das Bündnis ein wichtiger potentieller Partner, um Einfluss in der Mittelmeer-Region zu wahren, während es für den Westen unabdingbar wäre, um Stabilität an Europas Peripherie zu sichern.
Politische Unabhängigkeit und Vermittlerrolle: Gegenüber den dominanten Mächten hätte ein blockfreier Zusammenschluss den Vorteil, nicht in deren Rivalitäten verstrickt zu sein. Weder Washington noch Brüssel noch Peking könnten dem Bündnis einseitig Vorschriften machen – diese souveräne Handlungsfreiheit erlaubt es, jeweils die vorteilhaftesten Deals auszuhandeln. Beispielsweise könnte der Block westliche Technologie und Investitionen anziehen, ohne dafür seine Beziehungen zu China oder Russland kappen zu müssen. Umgekehrt ließen sich chinesische Infrastrukturprojekte nutzen, ohne komplett in Pekings Abhängigkeit zu geraten. Durch diese Ausbalancierung würden die Balkanstaaten weit mehr Einfluss gewinnen, als es einzelnen kleinen Nationen je möglich wäre. Außerdem könnte das Bündnis als diplomatischer Vermittler auftreten: Etwa zwischen EU und Russland in Energiefragen oder zwischen arabischen und westlichen Ländern, dank seiner vielfältigen kulturellen Verbindungen (slawisch-europäisch, orthodox, islamisch – all das vereint die Region in sich). Diese Soft Power als Mittler verschafft dem Block einen Vorteil, den Großmächte oft nicht haben, weil sie als Partei in Konflikten wahrgenommen werden.
YU-topia als Brücke zwischen den Machtblöcken
Ein imaginärer jugoslawischer bzw. Balkan-Staatenbund, der sich wirtschaftlich und geopolitisch neu orientiert, hätte das Potenzial, einen eigenständigen Raum zwischen den Machtblöcken zu bilden. Durch kluge Allianzen – von der regionalen Balkankooperation über BRICS-Anbindung bis zur Mittelmeerpartnerschaft – könnte er sich als wichtiges Bindeglied im eurasisch-afrikanischen Raum etablieren. Die Vorteile in Form von Ressourcen, Märkten und strategischer Lage würden diesem Bündnis Hebel geben, um gegenüber der EU, den USA oder China selbstbewusst aufzutreten. Natürlich bleibt dies eine visionäre Ergänzung zur wirtschaftlichen Analyse – doch die Geschichte lehrt, dass aus kühnen Visionen mitunter neue Realitäten erwachsen. Die Vorstellung eines “YU-topia” (einer jugoslawischen Utopie) verbindet sich hier mit handfesten geopolitischen Überlegungen zu einer geteilten Zukunft, in der der Balkan nicht mehr Spielball fremder Mächte wäre, sondern selbstbewusst am globalen Schachbrett mitspielt.