Gysis Stunde der DDR-Relativierung

Gregor Gysi, 77 Jahre alt, könnte längst seine Rente genießen, doch der Polit-Junkie zieht es vor, weiterhin die politische Bühne zu betreten. Die Linke stand bis kurz vor den Bundestagswahlen im Februar 2025 vor dem Abgrund, und der Wiedereinzug in den Bundestag wackelte gefährlich. Da sprang der Altmeister ein, unterstützt von der dynamischen Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek und der „Silberlocken“-Kampagne mit Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch.

Das Ergebnis: 8,8 Prozent für die Linke und ein deutliches Direktmandat in Berlin-Treptow-Köpenick mit 41,8 Prozent. Gysi sitzt wieder im Bundestag und darf nach über 30 Jahren Parlamentszugehörigkeit nun als Alterspräsident die konstituierende Sitzung leiten, und zwar mit unbegrenzter Redezeit, wie er am Wahlabend schon freudig ankündigte:

„Das bedeutet, dass ich die erste, letzte und einzige Rede in meinem Leben im Bundestag halte – ohne Redezeitbegrenzung.“

»Gregor Gysi / ZDF«

Doch nicht alle teilen seine Begeisterung. Der DDR-Historiker Hubertus Knabe nannte es auf 𝕏 einen „Treppenwitz der Geschichte“, dass ausgerechnet Gysi, ein ehemaliger SED-Kader, dieses Amt übernimmt.

Ein berechtigter Einwand oder bloß nostalgische Empörung? Schauen wir genauer hin.

Vom Rinderzüchter zum SED-Chef: Gysis steiler Aufstieg

»Geboren 1948 in Berlin«, wuchs Gysi in der DDR auf. Abitur, eine Ausbildung zum Facharbeiter für Rinderzucht, dann Rechtswissenschaften mit Doktortitel. Ein ungewöhnlicher Lebenslauf. 1967 trat er der SED bei und wurde 1989 ihr letzter Vorsitzender, bevor sie sich in PDS umbenannte. 1990 zog er erstmals in den Bundestag ein. Später führte er die PDS als Partei- und Fraktionschef, bis er 2002 kurzzeitig Wirtschaftssenator in Berlin wurde. Diesen Posten musste er nach sechs Monaten wegen der „Flugmeilen-Affäre“ räumen. Gesundheitlich angeschlagen durch drei Herzinfarkte und eine Hirnoperation kehrte er dennoch zurück. 2005 trieb er den Zusammenschluss von PDS und WASG voran, aus dem 2007 Die Linke entstand. Ein Mann, der nicht aufgibt.

»Screenshot / HDG / LEMO«

Als Ost-Ikone kämpft Gysi für gleiche Lebensverhältnisse und Renten im Osten, zeigt sich europaskeptisch und russlandfreundlich, was ihm regelmäßig Kritik einbringt. Doch seine Biografie ist nicht ohne Schatten: Immer wieder tauchen Vorwürfe auf, er habe als Informeller Mitarbeiter (IM) für die Stasi gearbeitet. Gysi klagt stets erfolgreich dagegen und beteuert, der Stasi nie „wissentlich und willentlich“ geholfen zu haben. Der Immunitätsausschuss des Bundestages sah das 1998 anders und stellte mit Zweidrittelmehrheit fest, seine IM-Tätigkeit sei erwiesen. Fakt ist: Gysi war mindestens Zuträger und kämpfte mit Argumenten, die heute fadenscheinig wirken, gegen die Wiedervereinigung und für den Erhalt von DDR, SED und Stasi.

Alterspräsident per Regeltrick

Seit 2017 bestimmt nicht mehr das Lebensalter, sondern die Dienstzeit im Parlament, wer Alterspräsident wird. Erfahrung zähle mehr als Jahre, lautet die offizielle Begründung. Der wahre Hintergrund? Die AfD war 2017 neu im Bundestag, und Wilhelm von Gottberg hätte das Amt übernommen. Um dies zu verhindern, wurde die Geschäftsordnung geändert. Ein Schachzug der aus demokratischer Sicht bis heute fragwürdig erscheint. Von 1848 bis 2017 war der Älteste per Tradition Alterspräsident, nur die NSDAP unter Hermann Göring brach mit dieser Regel. Nun profitiert Gysi als dienstältester Abgeordneter davon.

Ironisch: Damals fürchtete man, ein AfD-Mann könne das Amt missbrauchen und dem Parlament schaden. Stattdessen steht nun ein ehemaliger SED Mann Names Gysi dort und tut genau das, was man vermeiden wollte.

»Gregor Gysi / 1. Bundestagssitzung / 25.03.25 / Phoenix YouTube«

Fast 40 Minuten lang spricht er, länger als seine Vorgänger, und liefert eine Rede, die wie ein Parteitagsauftritt wirkt: Anti-NATO-Tiraden, Kritik an den USA, weniger Geld für die Bundeswehr, Abschaffung privater Rüstungskonzerne. Er feiert Clara Zetkin, die 1932 als Alterspräsidentin den Reichstag eröffnete und in Erwartung einer „proletarischen Revolution“ die Weimarer Republik verfluchte.

»30. August 1932: Als Alterspräsidentin eröffnet sie den neugewählten Reichstag. In ihrer Rede kündigt sie den Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaftsordnung an und plädiert für eine Einheitsfront gegen den drohenden Faschismus.«

»Clara Zetkin / LEMO«

Gysi lobt sie als Vorbild, fordert gar eine Straßenbenennung nach ihr. Eine Kommunistin als Ikone – was sagt das über ihn?

Gysi geht weiter, indem er beklagt, die DDR werde auf „Stasi und Mauertote“ reduziert. Hierdurch verhöhnt er die Opfer eines Regimes, dessen Mauerschützen er indirekt verteidigt und dessen Unterdrückungsapparat er erhalten wollte.

»Gregor Gysi / Konstituierung des neuen Bundestags / FAZ YouTube«

War ein AfD-Mann wie Alexander Gauland, Jahrzehnte demokratischer Politiker in der CDU, wirklich die größere Gefahr? Gysi, der das Sytem der DDR retten wollte, relativiert ihr Unrecht und huldigt Kommunisten und Sozialisten, aber die Brandmauer gegen die AfD wiegt schwerer als die Berliner Mauer. Die Normalisierung der Ex-SED wurde vollzogen. Gysis Rede ist nur der Gipfel eines Prozesses, der die Erinnerung an SED-Unrecht längst begraben hat.

Als SED-Chef soll Gysi laut »Hubertus Knabe« mit „krimineller Energie“ dazu beigetragen haben, das Parteivermögen dem Volk zu entziehen und es verschwinden zu lassen.

„Einen Großteil dieses Vermögens hat die Partei vor 30 Jahren beiseite geschafft. Gysi selbst war es, der die Delegierten des Außerordentlichen Parteitages im Dezember 1989 beschworen hatte, die SED nicht aufzulösen, da sie dann ihr Eigentum verlieren würde.“

»Hubertus Knabe«

Dennoch ist Gysi als Kultfigur beliebt, sogar bei manchen in der Union. CDU-Mann Michael Donth freut sich, neben ihm zu sitzen, Thorsten Frei nennt ihn „erfahren und souverän“. Julia Klöckner applaudiert. Nur Sepp Müller widersetzt sich und liest demonstrativ Knabes Buch „Die Täter sind unter uns“.

»Screenshot / Amazon«

Der ewige Rückkehrer

Gysi genießt seinen Moment. Für ihn ist die Rolle des Alterspräsidenten ein Karrierehöhepunkt und eine Bühne, die er voll ausnutzt. Doch seine Vergangenheit bleibt: SED-Vorsitz, Stasi-Vorwürfe, die Rolle beim SED-Vermögen. Seit Hans Globke, Mitautor der Nürnberger Rassegesetze, gab es kaum eine derart belastete Figur in solch prominenter Position. Dennoch wird Gysi gefeiert, während die Linke mit der CDU kooperiert, etwa beim Grundgesetz oder in Ostdeutschland. Die historische Amnesie ist komplett.

Gysis Karriere beweist: Man kann DDR-Kader sein, die Wiedervereinigung bekämpfen, das SED-Erbe verwalten und dennoch den Bundestag eröffnen. Ein Triumph für ihn, eine Farce für die Demokratie – oder ein Treppenwitz, der Geschichte schreibt.