Der Rechtsstaat lebt von der klaren Trennung der Gewalten. Doch zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesregierung scheint diese Trennung zunehmend porös. Recherchen der »WeLT« offenbaren ein Netzwerk aus Treffen, Telefonaten und Schreiben, das weniger nach unabhängiger Kontrolle als nach institutioneller Kumpanei aussieht. Gerichtspräsident Stephan Harbarth telefoniert mit Kanzler Olaf Scholz, schickt Geburtstagsgrüße an FDP-Politiker und plaudert mit Staatssekretären über Bürokratie – alles „ohne Verfahrensbezug“, wie es heißt. Wie unabhängig ist ein Gericht, das so intensiv mit der Politik vernetzt ist? Ein kritischer Blick auf die Fakten zeigt: Die Gewaltenteilung droht zur Fassade zu werden.
Ein Netzwerk aus Anlässen und Absprachen
Im Jahr 2024 trafen sich Vertreter des Bundesverfassungsgerichts und der Bundesregierung bei 22 „dienstlichen Anlässen“, von Staatsbanketten über Jubiläen bis hin zu einem Symposium im Luxushotel „Schloss Elmau“. Gerichtspräsident Harbarth, in der protokollarischen Rangordnung an fünfter Stelle, war meist vor Ort. Besonders pikant: Harbarth und der damalige Chef des Kanzleramts Wolfgang Schmidt (SPD) tauschten sich in Schloss Elmau über „Demokratie in Zeiten der Krise“ aus. Dies war allerdings nur die Spitze des Eisbergs.

Richter und Regierungsmitglieder nahmen außerdem laut Angaben des Bundesjustizministeriums (BMJ) an fünf juristischen Fachveranstaltungen teil, darunter das „Luxemburger Expertenforum“ und der „EDV-Gerichtstag“.
Mindestens 14 nicht-verfahrensbezogene Schreiben wechselten zwischen Gericht und Regierung. Harbarth gratulierte einem FDP-Minister zum Geburtstag und dessen Chef zur Ernennung als Justizminister.
„Nach Recherchen von WELT wurden im vergangenen Jahr mindestens 14 nicht-verfahrensbezogene Schreiben zwischen Gericht und Regierung ausgetauscht. Beispielsweise schickte Harbarth dem damaligen Parlamentarischen Staatssekretär im Verkehrsministerium, Michael Theurer (FDP), Geburtstagsglückwünsche. Auch Theurers Vorgesetztem, Ex-Verkehrsminister Volker Wissing (früher FDP, inzwischen parteilos), gratulierte Harbarth, als dieser nach dem FDP-Ampel-Exit zusätzlich zum Justizminister ernannt wurde.“
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Zudem gratulierte Nancy Faeser (SPD) dem früheren Generalbundesanwalt Peter Frank zu seiner Wahl als Verfassungsrichter, und kaum war der Dank ausgesprochen, stellte er sich demonstrativ an ihre Seite im Kampf gegen die „Reichsbürger“. Frank übernahm Faesers Einschätzung fast wortgleich und sprach von wachsender Gewaltbereitschaft und der Gefahr terroristischer Zusammenschlüsse.

Weitere Schreiben umfassten Einladungen und Absagen zu Veranstaltungen. Dazu kamen Telefonate: Harbarth führte vier Gespräche mit dem ehemaligen Justizminister Marco Buschmann (FDP) über die „Resilienz der Verfassungsgerichtsbarkeit“, ein nebulöser Begriff, der Fragen nach Extremismusschutz und Gesetzesänderungen umfasste. Zwei weitere Telefonate mit Kanzler Scholz am 23. Juli und 10. Dezember 2024 wurden als „ohne Verfahrensbezug“ deklariert, ohne dass Inhalte offengelegt wurden.
„Damit ist die Frage gemeint, wie man das Bundesverfassungsgericht besser vor einer Beeinflussung durch Extremisten schützen kann. Union, SPD, FDP und Grüne entwickelten im Laufe des Jahres Vorschläge zur Absicherung wesentlicher Strukturmerkmale des Gerichts im Grundgesetz. Die Ideen leitete Buschmann dem Gericht zu, damit dieses dazu Stellung nehmen konnte. Im November wurde das Gesetz dann vom Bundestag verabschiedet.“
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Weitere Kontakte wirken banal, sind aber symptomatisch: Richterin Astrid Wallrabenstein telefonierte mit Finanz-Staatssekretär Heiko Thoms über die Abordnung eines Mitarbeiters, Harbarth besprach mit Staatssekretärin Luise Hölscher Arbeitssicherheit, und Richterin Miriam Meßling erhielt eine Absage von Staatssekretärin Leonie Gebers für den „Deutschen Sozialgerichtstag“. Verfassungsrichter Henning Radtke traf Buschmann, um Themen für den „Deutschen Juristentag“ zu erörtern. Die Summe dieser Kontakte zeichnet das Bild, dass zwischen Karlsruhe und Berlin ein reger, oft informeller Austausch besteht, der weit über das Notwendige hinausgeht.
Kritik an der Kumpanei
Die enge Vernetzung ist kein Einzelfall. Schon 2021 gab es enorme »Kritik an gemeinsamen Abendessen zwischen Regierung und Verfassungsgericht«, etwa im Vorfeld der Entscheidung zur „Bundesnotbremse“ 2021. Damals dinierte die Bundeskanzlerin mit Ministern und allen 16 Verfassungsrichtern zum Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“.
Justizministerin Christine Lambrecht sprach über politische Entscheidungen in der Coronakrise. Solche Treffen fanden statt, während Klagen zu Corona-Maßnahmen und Klimagesetzen in Karlsruhe anhängig waren. Ebenso fragwürdig ist »die Bereitstellung von Regierungsflugzeugen für Richter« in Zeiten sensibler Urteile.
Verfassungsexperte Volker Boehme-Neßler von der Universität Oldenburg schlug Alarm. Er sah in den zu diesem Zeitpunkt über 40 dokumentierten Kontakten zwischen Ampel-Regierung und obersten Gerichten seit 2021 eine problematische Bedrohung der Gewaltenteilung und richterlichen Unabhängigkeit.
„Der Rechtsstaat funktioniert nur, wenn die Richter völlig unabhängig arbeiten können. Einflüsse der Regierung auf die Gerichte bedrohen die richterliche Unabhängigkeit. Regelmäßige Kontakte schaffen Nähe und gegenseitiges Verständnis. Das macht es für Richter schwierig, die Regierung dann unparteiisch und objektiv zu kontrollieren.“
»Volker Boehme-Neßler / BILD«
Abhängigkeit statt Autorität
Befürworter argumentieren, informeller Austausch fördere die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen durch die Regierung. Doch genau hier liegt das Problem: Seit wann ist Gesetzestreue eine Verhandlungssache, die durch Empfänge und Glückwunschkarten erkauft werden muss? Wenn die Autorität des Gerichts von der persönlichen Nähe zur Regierung abhängt, ist dann noch Unabhängigkeit gewährleistet oder besteht bereits Abhängigkeit? Ein Rechtsstaat, in dem Urteile nur durch vorherige Absprache mit dem Kanzler Wirkung entfalten, hat mit Demokratie wenig zu tun. Die Bürger dürfen sich fragen, ob die obersten Wächter des Grundgesetzes noch kontrollieren oder längst mitregieren.
Die gewachsene Nähe des Bundesverfassungsgerichts zur politischen Sphäre wurde mit der von Angela Merkel forcierten Ernennung eines ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten zum Verfassungsrichter unübersehbar.
Diese Personalentscheidung markierte einen Bruch mit dem Anspruch institutioneller Unabhängigkeit, den das Gericht über Jahrzehnte für sich reklamiert hatte. Die Übergabe dieses politischen Erbes an Olaf Scholz als nachfolgenden Kanzler wurde in den sozialen Medien ebenfalls thematisiert und vielfach mit satirischen Kommentaren oder auch sogenannten Memes versehen, die auf eine fortgesetzte parteipolitische Einflussnahme auf das Bundesverfassungsgericht anspielten.

Intransparenz als System
Die Öffentlichkeit erfährt nur Bruchstücke. Telefonate und Schreiben werden nicht systematisch erfasst, wie Gericht und Ministerien unisono betonen. Es gebe „keine Verpflichtung“ dazu, und die Angaben könnten unvollständig sein. Selbst bei Nachfragen bleibt das Gericht vage: Gespräche mit Scholz werden als „ohne Verfahrensbezug“ abgetan, ohne Details preiszugeben. Diese Intransparenz nährt Misstrauen. Wenn der Bürger nicht weiß, worüber Richter und Regierung sprechen, wie soll er Vertrauen in die Unabhängigkeit des Gerichts haben?

Die Gewaltenteilung endet nicht mit einem Skandal, sondern mit einem Muster. Wenn Richter regelmäßig mit Ministern dinieren, Staatssekretären gratulieren und mit Kanzlern plaudern, wird Neutralität zur Farce. Harbarths Netzwerk mag protokollarisch korrekt sein, doch es schafft eine Kultur, in der Kontrolle durch Koordination ersetzt wird. Das Bundesverfassungsgericht sollte die Regierung begrenzen, nicht mit ihr anstoßen. Solange Karlsruhe und Kanzleramt so eng verknüpft sind, bleibt die Frage: Wer wacht eigentlich über den Rechtsstaat, wenn seine Wächter lieber mitspielen?