Die sogenannte Corona-Pandemie ist Geschichte – zumindest wäre sie das gern für ihre Befürworter und die Verantwortlichen. Doch ihre Nachwirkungen durchziehen weiterhin die politische Landschaft. Die Kategorie der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“, die Kritiker von Beginn an als politisch motiviertes Instrument betrachteten, wurde bereits 2021 unter Innenministerin Nancy Faeser eingeführt, mitten in der Corona-Zeit.

Im Verfassungsschutzbericht 2024, vorgestellt von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU), wird sie nun weitergeführt und ausgebaut. Was wie ein bürokratischer Begriff klingt, entpuppt sich als Werkzeug, um legitime Kritik an staatlichen Maßnahmen in den Dunstkreis des Extremismus zu rücken. Die Mechanismen, mit denen der Staat abweichende Meinungen pathologisiert, und die Tatsache, dass die Forderung nach einer Aufarbeitung der Pandemiepolitik plötzlich als Bedrohung gilt, offenbaren ein autoritäres Verständnis von Kritik.
»Verfassungsschutzbericht / BMI 2024«
Ein vager Vorwurf mit weitreichenden Folgen
Der Verfassungsschutz definiert „Delegitimierer“ als Akteure, die demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen verächtlich machen oder dazu aufrufen, behördliche Anordnungen zu ignorieren.

Das soll nach einer klaren Linie klingen, doch weit gefehlt. Der Bericht gibt zu, dass diese Akteure oft nicht die Demokratie als solche ablehnen, sondern spezifische Amtsträger oder Behörden kritisieren. Dennoch wird ihre Agitation als Angriff auf die „demokratische Ordnung“ gewertet, weil sie angeblich das Vertrauen in das staatliche System erschüttert. Diese Argumentation ist ein rhetorischer Drahtseilakt: Kritik an der Regierung wird zur Gefährdung des Staates hochstilisiert, ohne dass konkrete verfassungsfeindliche Handlungen nachgewiesen werden müssen.
„Diese Form der Delegitimierung erfolgt oft nicht über eine offene Ablehnung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Verächtlichmachung von und Agitation gegen demokratisch legitimierte
Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates.“
»Verfassungsschutzbericht 2024 / S. 134«
Die Zahlen untermauern die Schwammigkeit: Rund 1500 Personen werden diesem Spektrum zugerechnet, ein Rückgang gegenüber den 1600 des Vorjahres. Etwa 250 gelten als gewaltorientiert, eine Zahl, die stabil bleibe, obwohl die Gesamtzahl sinke. Das legt nahe, dass der Verfassungsschutz ein festes Kontingent an „Gefährdern“ benötigt, um die Relevanz der Kategorie zu rechtfertigen. Doch wer sind diese Menschen? Der Bericht spricht von einem „äußerst heterogenen“ Milieu ohne organisierte Strukturen, bestehend aus Einzelpersonen oder losen Zusammenschlüssen. Es gibt keinen systempolitischen Gegenentwurf, nur eine „fundamentale Ablehnung des bestehenden Staates“. Diese Beschreibung ist so breit gefasst, dass sie von Querdenkern bis hin zu Klimaschutzgegnern nahezu jeden umfassen könnte.
„Im Berichtszeitraum waren dem Spektrum der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ rund 1.500 Personen (2023: 1.600) zuzurechnen, davon sind etwa 250 Personen (2023: 250) als gewaltorientiert einzustufen. Dieser Kern ist ungeachtet des quantitativen Rückgangs der Gesamtpersonenzahl unverändert geblieben, da überzeugte Protagonisten des Spektrums Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Agenda zumindest befürworten. Das Delegitimierungsspektrum ist in seiner Zusammensetzung äußerst heterogen und zum Teil durch regionale Besonderheiten geprägt. Organisierte, auf Dauer angelegte Strukturen sind selten; überwiegend agieren in diesem Bereich Einzelpersonen oder lose Personenzusammenschlüsse.
Verbindendes Element ist die kategorische Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung. Einen systempolitischen Gegenentwurf, auf dessen Grundlage sich die unterschiedlichen Akteure vereinen könnten, gibt es hingegen nicht. Der Konsens erschöpft sich bereits in der fundamentalen Ablehnung des bestehenden Staates.“
»Verfassungsschutzbericht 2024 / S.134«
Neue Feindbilder: Von Corona zur Totalüberwachung
Mit dem Wegfall der Maßnahmen im Frühjahr 2023 verloren die „Delegitimierer“ ihren zentralen Mobilisierungsgrund. Der Verfassungsschutz beobachtet nun, wie sie neue Themen besetzen: die Forderung nach einer „Aufarbeitung“ der Coronapandemie, einschließlich der strafrechtlichen Verfolgung verantwortlicher Politiker, Kritik an staatlichen Klimaschutzmaßnahmen, Skepsis gegenüber der deutschen Unterstützung im Ukraine-Krieg oder die Sorge vor staatlicher Überwachung durch Digitalisierung. Dazu steht im Verfassungsschutzbericht:
„Aufgrund des Wegfalls der staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Frühjahr 2023 wurden im Delegitimierungsspektrum wie bereits im Vorjahr neue, mobilisierungsfähige Themen gesucht. Neben der Forderung nach einer „Aufarbeitung“ der Coronapandemie (auch in Form einer strafrechtlichen Verfolgung der für die Schutzmaßnahmen verantwortlichen Politikerinnen und Politiker) wurde versucht, staatliche Klimaschutzmaßnahmen, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder die angebliche Gefahr einer staatlichen Totalüberwachung der Bevölkerung durch Digitalisierung als mögliche Schwerpunktthemen zu implementieren.“
»Verfassungsschutzbericht 2024 / S.135«
Diese Themen sind nicht nur legitim, sondern vor allem auch Teil des demokratischen Diskurses. Doch der Bericht suggeriert, dass sie Indikatoren für eine verfassungsfeindliche Gesinnung seien.
Besonders die Forderung nach einer Corona-Aufarbeitung wird als verdächtig hervorgehoben. Dabei ist es ein Grundsatz demokratischer Gesellschaften, politische Entscheidungen kritisch zu prüfen, erst recht, wenn sie Grundrechte massiv einschränken. Die Pandemiepolitik mit ihren Lockdowns, Impfkampagnen und sozialen Spaltungen bietet reichlich Stoff für eine solche Reflexion. Doch anstatt den Dialog zu fördern, stuft der Verfassungsschutz solche Forderungen als potenzielle Staatsgefährdung ein. Diese Logik unterstellt, dass Kritik nicht aus Sorge um demokratische Prinzipien entsteht, sondern aus einer grundsätzlichen Ablehnung des Staates. Damit wird ein legitimer Anspruch auf Rechenschaft in den Bereich des Extremismus verschoben, der bekämpft werden muss.
Ausgerechnet jene, die sich selbst zu Hütern der Demokratie ernennen und sich demonstrativ den Schutz der Verfassung auf die Fahnen schreiben, untergraben durch ihr Vorgehen die Grundlagen eben jener Ordnung, die sie zu verteidigen vorgeben, denn sie treten zentrale Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und politische Teilhabe mit Füßen. Was als Schutzmaßnahme verkauft wird, entpuppt sich als schleichende Aushöhlung demokratischer Substanz.
Soziale Medien als Radikalisierungsmotoren?
Ein weiterer Vorwurf des Berichts: Die „Delegitimierer“ nutzen soziale Medien, insbesondere Plattformen wie Telegram, um ihre Ansichten zu verbreiten. Dort würden Verschwörungserzählungen und extremistische Ideologeme ungefiltert zirkulieren, oft begleitet von einem Wettstreit um die radikalsten Aussagen. Einige Akteure bezögen ihre Informationen ausschließlich aus „szenetypischen“ Kanälen, was die Gefahr einer Radikalisierung erhöhe. Diese Darstellung ignoriert, dass soziale Medien ein Spiegel gesellschaftlicher Debatten sind, polarisiert, aber nicht zwangsläufig extremistisch. Zudem bleibt unklar, wie der Verfassungsschutz „szenetypische“ Medien definiert und warum der Konsum alternativer Informationsquellen per se verdächtig sein soll.
„Insbesondere die Kommunikation in sozialen Medien leistet den im Delegitimierungsspektrum vorhandenen Radikalisierungstendenzen Vorschub. Auf unterschiedlichen Plattformen wie Telegram können ungefiltert Verschwörungserzählungen und extremistische Ideologeme verbreitet werden. Gewaltorientierte Äußerungen bleiben nicht nur häufig unwidersprochen, sondern werden sogar aktiv unterstützt. Oft entsteht im Verlauf von Chats und Kommentaren ein regelrechter Wettstreit mit immer noch extremeren Äußerungen. Einige Personen im Bereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ beziehen ihre Informationen zu politischen und sozialen, aber auch zu alltäglichen Fragen alleine aus den szenetypischen Kanälen, über die auch für Demonstrationen und Aktionen mobilisiert wird. Die Gefahr einer Radikalisierung von Gruppen oder Einzelpersonen besteht somit weiterhin.“
»Verfassungsschutzbericht 2024 / S.137«
Die Finanzierung der Szene erfolgt laut Bericht über Spenden, Mitgliedsbeiträge, Merchandise oder Workshops. Solche Praktiken sind in jeder politischen Bewegung üblich, von NGOs bis zu Parteien. Dennoch wird hier suggeriert, dass sie ein Indikator für subversive Aktivitäten seien. Die Schwelle zur Kriminalisierung scheint niedrig: Wer Flugblätter druckt oder Kundgebungen organisiert, gerät schnell ins Visier.
„Wie in den Vorjahren wurden dazu insbesondere soziale Medien, Internetplattformen und Messengerdienste wie Telegram genutzt. Zur Finanzierung von Veranstaltungen und Materialien (wie beispielsweise Flyern), aber auch teilweise zur Deckung von Lebenshaltungs- oder Gerichtskosten einzelner Akteure wurden verschiedene Einnahmequellen generiert. Diese reichten von Spenden über Mitgliedsbeiträge für Vereine bis hin zum Verkauf von Waren und Dienstleistungen, wie etwa Merchandise, Publikationen oder Workshops.“
»Verfassungsschutzbericht 2024 / S.135«
Gewaltorientierung und die „Vereinten Patrioten“
Der Bericht stuft etwa ein Sechstel der „Delegitimierer“ als gewaltorientiert ein. Diese Personen würden Gewalt befürworten, unterstützen oder anwenden, oft mit der Begründung, sich gegen eine „repressive Diktatur“ zu wehren. Manche vergleichen die Bundesrepublik gar mit dem NS-Regime, um ein „Widerstandsrecht“ abzuleiten. Solche Vergleiche sind geschmacklos und historisch verfehlt, doch sie allein machen niemanden zum Terroristen. Der Verfassungsschutz bleibt vage, wie viele tatsächlich gewalttätig sind und wie diese Einschätzung zustande kommt.
„Etwas mehr als ein Sechstel der Angehörigen des Delegitimierungsspektrums sind als gewaltorientiert einzustufen. Dieser Personenkreis befürwortet oder unterstützt entweder die Anwendung von Gewalt durch Dritte im Rahmen von Agitationen, ist selbst gewaltbereit oder wendet selbst Gewalt an. Die Bundesrepublik Deutschland wird als „repressive Diktatur“ beschrieben, manches Mal sogar mit dem NS-Regime verglichen und daraus ein vermeintlich legitimes Widerstandsrecht abgeleitet.“
»Verfassungsschutzbericht 2024 / S.137«
Als ein konkretes Beispiel nennt der Bericht die Gruppierung „Vereinte Patrioten“, die mit Rechtsextremisten und „Reichsbürgern“ verbandelt sei. Sie habe Anschläge auf kritische Infrastruktur geplant, um bürgerkriegsähnliche Zustände heraufzubeschwören, und habe sogar die Entführung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach im Visier gehabt. Seit Mai 2023 läuft ein Prozess gegen fünf Hauptbeschuldigte vor dem Oberlandesgericht Koblenz, unter anderem wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung.
„Exemplarisch für das vorhandene Gefährdungspotenzial steht die Gruppierung „Vereinte Patrioten“, der neben Personen aus dem Delegitimierungsspektrum auch Rechtsextremisten und „Reichsbürger“ angehörten. […] Die „Vereinten Patrioten“ (auch „Kaiserreichsgruppe“ genannt) planten, bürgerkriegsähnliche Zustände durch Anschläge auf Kritische Infrastruktur in Deutschland herbeizuführen und das politische System durch eine „Reichsverfassung“ zu ersetzen. Dabei war auch die Entführung des Bundesministers für Gesundheit Prof. Dr. Karl Lauterbach geplant.“
»Verfassungsschutzbericht 2024 / S.136«
Die „Vereinten Patrioten“ sind ein Extremfall, doch der Verfassungsschutz nutzt sie, um das gesamte sogenannte „Delegitimierungsspektrum“ in eine noch schlimmere Ecke zu rücken. Dabei wird verschwiegen, dass die Mehrheit der beschriebenen Akteure weder organisiert noch gewalttätig ist. Die Verbindung zu Rechtsextremismus und „Reichsbürgern“ wird betont, obwohl der Bericht selbst einräumt, dass solche Kontakte lediglich bei Einzelpersonen bestehen und die Grenzen „fließend“ sind. Diese Taktik verwischt bewusst die Realität: Die meisten Kritiker agieren nicht in extremistischen Netzwerken, sondern allenfalls in lockeren, thematisch getriebenen Zusammenhängen. Die Taktik der Machthabenden ist nichts anderes als ein perfides Ablenkungsmanöver und Machtinstrument. Einzelne Extremfälle werden aufgebauscht, um eine ganze Kritikergruppe in den Dreck zu ziehen und mundtot zu machen. Wer den Staat infrage stellt oder unangenehme Wahrheiten anspricht, wird reflexartig als „Staatsfeind“ unter dem Begriff „Delegetimierer“ oder „Rechtsextremist“ gebrandmarkt, ohne Rücksicht auf echte Fakten oder Differenzierung.
Ein Angriff auf die Meinungsfreiheit!
Die Kategorie der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung“ steht seit ihrer Einführung zu Recht in der Kritik, weil sie die Grenze zwischen scharfer Regierungskritik und Extremismus verwischt. Der Bericht gibt selbst zu, dass es den Akteuren oft nicht um eine „offene Ablehnung der Demokratie“ geht, sondern maximal um die Verächtlichmachung einzelner Politiker oder Institutionen. Doch anstatt diese Kritik als Teil des demokratischen Prozesses zu werten, wird sie als Bedrohung für die „Funktionsfähigkeit des Staates“ dargestellt. Diese Logik selbst stellt die eigentliche Gefahr für die echte Demokratie dar, indem sie legitime Meinungsäußerungen pauschal unter Generalverdacht stellt.
Besonders heikel ist die fehlende Abgrenzung bei den „Entwicklungstendenzen“. Während der Bericht etwa bei rechtsextremer Queerfeindlichkeit klarstellt, dass die Betonung traditioneller Familienmodelle nicht per se extremistisch ist, fehlt eine solche Differenzierung bei Themen wie Corona-Aufarbeitung oder Digitalisierungskritik. Das lässt den Eindruck entstehen, dass jede Form von Dissens potenziell beobachtungswürdig ist. In einer Demokratie, die auf Meinungsfreiheit basiert, ist dies ein alarmierendes Signal.

Der Verfassungsschutzbericht 2024 zeigt, wie der Staat mit der Kategorie der „Delegitimierung“ ein Instrument geschaffen hat, um abweichende Meinungen zu überwachen, zu diskreditieren und verfolgbar zu machen. Indem Kritik an der Pandemiepolitik, an Klimamaßnahmen oder an der Digitalisierung als potenzielle Staatsgefährdung eingestuft wird, setzt der Verfassungsschutz die Meinungsfreiheit unter Druck. Die vage Definition, die Betonung von Gewaltorientierung ohne klare Belege und die Verknüpfung mit extremistischen Rändern dienen dazu, ein diffuses Feindbild zu zeichnen. Doch eine wirklich echte Demokratie lebt von Streit und Kritik, nicht von blinder Loyalität. Wenn der Staat jede Infragestellung seiner Autorität als Bedrohung wahrnimmt, riskiert er genau das Vertrauen, das er angeblich zu schützen vorgibt.