Friedrich Merz, der neue Bundeskanzler, steht nach nur zwei Tagen im Amt vor einem Dilemma. Im Wahlkampf hatte der CDU-Politiker vollmundig eine „Migrationswende“ angekündigt: Am ersten Tag seiner Kanzlerschaft wolle er per Richtlinienkompetenz das Innenministerium anweisen, alle Grenzen dauerhaft zu kontrollieren und illegale Einreisen konsequent zurückzuweisen – auch für Menschen mit Schutzanspruch.
Nach dem Solingen-Anschlag im August 2024 hatte Merz sogar eine „nationale Notlage“ ins Spiel gebracht, sollte das EU-Recht den Zurückweisungen im Wege stehen. Damals betonte er, Deutschland habe sowohl das Recht als auch die Verantwortung, „eine nationale Notlage zu erklären im Hinblick auf die Flüchtlinge“. Doch kaum im Amt, scheint die Realität den Kanzler einzuholen. Sein Regierungssprecher Stefan Kornelius dementierte am Donnerstag, den 8. Mai 2025, gegenüber BILD die Berichte, Merz habe die „nationale Notlage“ ausgerufen.
„Der Bundeskanzler will keinen nationalen Notstand in Kraft setzen.“
»Stefan Kornelius / BILD«
Warum diese Kehrtwende? Ein Blick hinter die Kulissen der schwarz-roten Koalition offenbart ein Geflecht aus taktischen Spielchen, parteipolitischen Grabenkämpfen und juristischen Winkelzügen.
Der WELT-Bericht und das Chaos in der Koalition
Die Verwirrung begann mit einem Bericht von »WELT«-Vizechefredakteur Robin Alexander. Am Donnerstagnachmittag meldete er auch auf 𝕏, Merz habe die „nationale Notlage“ bei der Migration ausgerufen und die Botschafter der Nachbarstaaten seien im Bundesinnenministerium darüber informiert worden.
Merz ruft tatsächlich die "nationale Notlage" aus. Die neue Bundesregierung will Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union aktivieren. Darüber werden zur Stunde die Botschafter der Nachbarstaaten im Innenministerium unterrichtet! Das bedeutet:…
— Robin Alexander (@robinalexander_) May 8, 2025
Die Nachricht schlug ein wie ein Blitz. Doch kurz darauf folgte das Dementi aus dem Kanzleramt. Was war passiert? In der Koalition aus CDU, CSU und SPD brodelte es. Der Begriff „nationale Notlage“ ist ein rotes Tuch, besonders für die SPD, die eine solche Feststellung stets abgelehnt hat. Die CSU hingegen, angeführt von Innenminister Alexander Dobrindt, sieht darin ein probates Mittel, um die Grenzen dichtzumachen. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann reagierte zunächst euphorisch auf 𝕏: Unter dem Hashtag „Notlage“ pries er die vermeintliche Umsetzung zentraler Wahlversprechen. Doch kaum war das Dementi aus dem Kanzleramt veröffentlicht, löschte er den Beitrag eilig und ersetzte ihn durch eine entschärfte Version – diesmal ohne den Hashtag. Das Chaos war perfekt.

Wir halten unsere Versprechen aus dem Wahlkampf und machen Ernst mit der Migrationswende. Wir entscheiden, wer in unser Land kommt und beenden illegale Einwanderung!
— Alexander Hoffmann (@Hoffmann_MdB) May 8, 2025
»Screenshot / Alexander Hoffmann / 𝕏«
Artikel 72: Die versteckte Notlage
Hinter dem öffentlichen Hickhack verbirgt sich ein juristischer Kniff. Laut BILD argumentieren Regierungsjuristen, dass Innenminister Dobrindt für die verschärften Grenzkontrollen und Zurückweisungen Paragraph 18, Absatz 2 des Asylgesetzes anwendet. Voraussetzung dafür ist die Aktivierung von Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der es Mitgliedstaaten erlaubt, bei Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit von EU-Regeln abzuweichen.
„Alexander Dobrindt (54, CSU) wendet für die Grenzkontrollen und Zurückweisungen Paragraph 18, Absatz 2, des Asylgesetzes an. Um den Paragraph 18 zu nutzen, muss vorher Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gezogen werden.“
»BILD«
Der Haken: Eine solche Bedrohung impliziert faktisch eine Notlage. Diese muss jedoch nicht öffentlich ausgerufen werden, es reicht, wenn die Regierung sie intern feststellt. Sicherheitskreise bestätigten gegenüber dem »Boulevardmedium«, dass Deutschland Artikel 72 derzeit für die Grenzkontrollen nutzt.
„Das Innenministerium von Dobrindt hat eine Notlage festgestellt. Aber der Innenminister verzichtete in seiner Weisung an die Bundespolizei, das Wort Notlage zu benutzen. Er erwähnte nur Paragraph 18.“
»BILD«
Dobrindt selbst bestätigte in der Sendung Maybrit Illner am Donnerstagabend, auf dieser Grundlage zu handeln. Das Dementi des Kanzlers beziehe sich lediglich auf den Begriff „nationale Notlage“, nicht auf die Maßnahmen selbst. Ein sprachliches Täuschungsmanöver, um die SPD zu beruhigen?
Die #Notlage soll nun doch ausgerufen werden – sagt Dobrindt bei #illner. Ja was denn nun? Zwei Tage im Amt und nur noch Chaos.
— Andreas Audretsch (@AnAudretsch) May 8, 2025
Dieser Spuk wird die neue PKW-Maut von Dobrindt. Für Wahlkampf-Populismus mal eben europäisches Recht brechen wird peinlich u. teuer. #illner pic.twitter.com/nVRSNssL7s
Die drei Theorien der Verschleierung
Unter Abgeordneten der schwarz-roten Koalition kursieren drei Erklärungen für diese semantische Spiegelfechterei. Erstens: Dobrindt habe die Notlage bewusst unausgesprochen gelassen, um der SPD Gesichtswahrung zu ermöglichen, da diese laut einer Aussage der stellvertretende Fraktionsvorsitzenden Eichwede im Deutschlandfunk nicht nur die Ausrufung einer Notlage strikt ablehnt, sondern auch Zurückweisungen bei Asylgesuchen für europarechtswidrig hält und fordert, dass solche Maßnahmen, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, nur in Absprache mit europäischen Partnern erfolgen dürfen.
»Sonja Eichwede / Deutschlandfunk«
Zweitens: Das Innenministerium habe gezielt das Missverständnis genutzt, dass eine Notlage öffentlich verkündet werden müsse, um die Maßnahmen stillschweigend durchzudrücken. Drittens: Die Kommunikation zwischen CDU und CSU sei derart chaotisch verlaufen, dass Dobrindts Vorstoß Merz zwang, auf SPD-Druck hin zurückzurudern. Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, versuchte gegenüber der »WeLT« zwar, den Eindruck innerkoalitionärer Zerstrittenheit zu zerstreuen, doch alle drei Theorien deuten in dieselbe Richtung: Die Koalition ist gespalten, und die Migrationspolitik wird zum Spielball interner Machtkämpfe.
„Das bisherige System der Dublin-Überstellung von illegal eingereisten Migranten funktioniert seit Jahren nicht mehr. Deswegen ist es politisch und rechtlich konsequent, dass wir gar nicht erst die Einreise zulassen.“
»Alexander Throm / WeLT«
Während die Union die harte Linie fährt, versucht Merz, die Koalition zusammenzuhalten, koste es, was es wolle.
Grenzkontrollen in Aktion: Die Realität an den Außengrenzen
Seit Mittwoch, dem 7. Mai 2025, hat Dobrindt die Zurückweisung von Asylbewerbern an den Grenzen angeordnet. Die Bundespolizei wurde massiv aufgestockt: 11.000 Beamte, verstärkt durch 3000 weitere Kräfte, arbeiten in 12-Stunden-Schichten. Das Kontingent der Bundesbereitschaftspolizei wurde verdoppelt.
»BILD«-Reporter wurden an mehrere Grenzabschnitte entsandt, um die Umsetzung der neuen Maßnahmen aus nächster Nähe zu dokumentieren. An vier stark frequentierten Übergängen beobachteten sie, wie Grenzpolizisten Fahrzeuge kontrollierten und Personen überprüften.
- Saarbrücken (Frankreich): An der Goldenen Bremm, dem größten Übergang zwischen Frankreich und Deutschland, kontrollieren schwer bewaffnete Polizisten verdächtige Fahrzeuge, besonders Kleintransporter und vollbesetzte Pkw mit französischen Kennzeichen. Am Donnerstag wurde ein 22-jähriger afrikanischer Flüchtling ohne Papiere aufgegriffen und zur Überstellung nach Frankreich gebracht. Französische Anwohner beobachten das Geschehen skeptisch:
„Die Deutschen weisen zurück. Wir wollen die Leute aber auch nicht bei uns haben.“
«Französischer Anwohner / BILD«
- Weil am Rhein (Schweiz): Der Hotspot für illegale Einreisen zeigt ein gemischtes Bild. In der Straßenbahn-Linie 8 zwischen Basel und Weil am Rhein kontrollieren Polizisten jeden Fahrgast. Am Donnerstagmorgen wurde ein Mann mit offenem Haftbefehl festgenommen, aber zur Schweiz überstellt. Das Schweizer Justizministerium (EJPD) kritisiert auf 𝕏 die Zurückweisungen als rechtswidrig.
„Systematische Zurückweisungen an der Grenze verstossen aus Sicht der Schweiz gegen geltendes Recht. Die Schweiz bedauert, dass Deutschland diese Massnahmen ohne Absprache getroffen hat. Die Schweizer Behörden beobachten die Auswirkungen und prüfen gegebenenfalls Massnahmen.“
»EJPD / 𝕏«
- Frankfurt an der Oder (Polen): An der Oderbrücke verdoppelte die Bundespolizei ihre Präsenz. Lieferwagen und verdächtige Fahrzeuge werden kontrolliert, doch die „grüne Grenze“ bleibt ein Problem. Der Fluss Neiße führt so wenig Wasser, dass illegale Übertritte zu Fuß möglich sind. Gewerkschaftssprecher Andreas Broska betont gegenüber »BILD« die Notwendigkeit von Schleierfahndung.
„Wenn man die Grenze kontrollieren will, muss man auch Schleierfahndung machen an unbesetzten Punkten.“
»Andreas Broska / BILD«
- Kiefersfelden (Österreich): An der Inntal-Autobahn kontrollieren 20 Polizisten, teilweise mit Maschinenpistolen, den Verkehr. Am Donnerstagmorgen wurde der kurdische Türke Alparslan ohne Papiere zurückgewiesen. Sechs weitere Migranten erhielten Anzeigen wegen illegaler Einreise. Auch kleinere Übergänge wie Sachrang wurden überwacht.
„Ich bin vor zwei Tagen von Istanbul über Italien nach Deutschland gereist. Ich war schon einmal in Deutschland, damals hatte ich Flüchtlingspapiere. Sie sagen, ich würde jetzt endgültig abgeschoben, zurück nach Österreich.“
»Alparslan / BILD«
Kritik von außen: Grüne, Schweiz und die AfD
Die Maßnahmen stoßen auf Widerstand. Die Grünen, durch Britta Haßelmann vertreten, kritisieren die Anwendung von Artikel 72 als „rechtlich zweifelhaften nationalen Alleingang“, der der EU schade. Haßelmann verweist auf rückläufige Asylzahlen und fragt provokant nach der Position der SPD.
Offenbar plant #Merz jetzt den Artikel 72 Notlage anzuwenden, dies, obwohl
— Britta Haßelmann (@BriHasselmann) May 8, 2025
es rückläufige Zahlen bei Aufnahme von Geflüchteten gibt. Solche rechtlich zweifelhaften nationalen Alleingänge schaden der EU gerade als Gemeinschaft des Rechts.
Und was sagt die SPD?!
Alice Weidel besuchte die polnische Grenze in Gubin, um Merz’ „faktisches Einreiseverbot“ zu überprüfen. Ihr Urteil: „Ein absolutes Debakel.“ Die Kontrollen seien nicht intensiver als unter der Ampel-Regierung und die Migrationswende eine Farce.
Ein absolutes Debakel schon am ersten Tag: Merz' "faktisches Einreiseverbot" gerät zur Farce! https://t.co/VNJR9lZMSp
— Alice Weidel (@Alice_Weidel) May 7, 2025
Regiert Merz oder regiert das Chaos?
Merz taumelt zwischen Führungsanspruch und Kontrollverlust. Einerseits muss er seine Wahlversprechen bedienen, andererseits die fragile schwarz-rote Koalition irgendwie zusammenhalten. Dobrindts Vorstoß, gestützt auf Artikel 72, zeigt, dass die CSU immerhin die Migrationspolitik vorantreibt, während die SPD im Hintergrund bremst.
Während der Bürger die Milliardenkosten und die realen Konsequenzen, von überlasteten Sozialsystemen bis hin zu eskalierenden Kriminalstatistiken, tagtäglich zu spüren bekommt, sonnt sich das politische Establishment also weiter in moralischer Selbstgewissheit. Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, trifft zu, doch diese Feststellung war niemals als Einladung zur globalen Selbstbedienung im Sozialstaat gedacht. Gemeint war stets die gezielte Zuwanderung von integrierbaren, qualifizierten Fachkräften und definitiv nicht die massenhafte Aufnahme von Menschen, die weder Sprachkenntnisse noch Arbeitsmarktfähigkeit mitbringen, dafür aber zunehmend in den Statistiken der Inneren Sicherheit auffallen. Die politische und linke Klasse tut so, als sei das alles alternativlos, dabei ist ihr Handeln und die Politik seit 2015 vor allem verantwortungslos!
Es ist höchste Zeit, der moralischen Gleichgültigkeit und politischen Feigheit eine klare Absage zu erteilen. Wer weiterhin sehenden Auges zulässt, dass Deutschland in einen Zustand des Kontrollverlusts und sozialen Wahnsinns abgleitet, macht sich mitschuldig. Verantwortung heißt nicht, Probleme schönzureden, sondern sie mutig und entschlossen zu lösen und das im Interesse derjenigen, die dieses Land tragen.