Es ist der 13. August 1961, ein Sonntagmorgen. Noch schlafen die meisten West-Berliner, als in den Straßen von Ost-Berlin eine seltsam untypische, hektische Betriebsamkeit herrscht, auch, da Sozialisten das Arbeiten nicht gerade erfunden haben. Doch an diesem Tag ist etwas anders. Lastwagen rollen an, Arbeiter in grauen Overalls springen ab, Soldaten spannen Stacheldraht über Straßen, reißen Pflastersteine auf, errichten erste Barrikaden. Wo am Abend zuvor noch Nachbarn über die Straße hinweg miteinander redeten, wachsen plötzlich Hindernisse in den Himmel. Ein Kuss, eine Umarmung, ein Besuch im Café – alles mit einem Schlag vorbei.
Die Deutsche Demokratische Republik, die sich so gerne als antifaschistischer Staat bezeichnete, zieht eine Mauer hoch, die nicht nur eine Stadt, sondern ein Volk entzweit. Und die SED, die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“, erklärt diese monströse Tat auch noch zum „antifaschistischen Schutzwall“. So nennt man das, wenn Täter sich selbst als Opfer inszenieren: eine Lüge, die dicker ist als der Beton, den sie in diesem menschenfeindlichen Moment gießen.
Die SED war dabei mehr als eine Partei. Sie war Staat, Regierung, Geheimdienst, Zensor und moralische Instanz in einem. Sie verkörperte die perfekte Verschmelzung von Ideologie und Macht, so perfekt, dass Kritik nicht mehr möglich war. Wer sich gegen die Mauer stellte, wurde zum Verräter erklärt, wer fliehen wollte, zum „Republikflüchtling“ degradiert. Und wer es dennoch wagte, musste mit dem Tod rechnen. An der innerdeutschen Grenze starben Hunderte Menschen – erschossen, zerfetzt von Minen, zerrissen von Selbstschussanlagen. „Antifaschistischer Schutzwall“ – das klingt fast so grotesk wie ein „humaner Schießbefehl“.
Ramelows „schönster Tag“ in seinem Leben
Doch wie wir alle, die die Geschichte kennen – dazu später mehr –, änderten sich die Zeiten. 1989 fiel die Mauer, die DDR implodierte. Was blieb, war die SED, die sich plötzlich neu erfinden musste. Man benannte sich um in PDS, später in „Die Linkspartei.PDS“ und schließlich in „Die Linke“. Jede Umbenennung war eine kosmetische Operation: ein neuer Name, ein bisschen Rouge, ein bisschen Puder, aber der ideologische Unterton blieb. Die Parteikader von gestern saßen bald wieder im Bundestag, erklärten nun Demokratie und Freiheit zu ihren Grundwerten, als hätten sie nie auf deren Gräbern getanzt. Wer es nicht weiß, könnte meinen: alles neu, alles unschuldig. Wer es weiß, der sieht: ein Etikettenschwindel der besonders plumpen Art.
Und nun, viele Jahre später, tritt der ehemalige thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow auf und »lobt Angela Merkel für die Grenzöffnung von 2015.« Man reibt sich verwundert die Augen. Derselbe politische Stallgeruch, der einst den Bau und Erhalt der tödlichsten Grenze in der Geschichte junger Deutscher verantwortete, jubelt heute über das Gegenteil: grenzenlose, ja willfährige Offenheit. Freud hätte seine Freude an diesem Spektakel: ein klassischer Fall von Übersprungshandlung. Man lehnt jede Grenze ab, um vergessen zu machen, dass man einst die brutalste Grenze verteidigte. Was für eine groteske Volte: vom Grenzmauer-Parteiaktivisten zur Grenzöffnungs-Partei. Erst Schießbefehl, dann Willkommenskultur – eine Geschichte, die man sich nicht besser ausdenken könnte. Für Bodo Ramelow, der mit dem ehemaligen Nationalspieler Carsten Ramelow weder verwandt noch verschwägert ist, war es sogar »„der schönste Tag“ seines Lebens«. Ob der Mauerbau für den SED-Politiker auf Platz 2 ist, verrät uns die Silberlocke jedoch nicht.
Versprechungen aus dem Reich des Wolkenkuckucksheims
Die Frage, die sich auftut, ist: Warum verfängt gerade bei Jüngeren der SED-Linke-Ramelow-Kader so? Schaut man auf die Wahlergebnisse, fällt auf: Ein beachtlicher Teil der unter 24-Jährigen »stimmt für die Linke«. Man könnte meinen, die Jugend sei rebellisch und wählt links, weil links eben so wahnsinnig rebellisch klingt. Doch das allein erklärt es nicht. Es liegt vielmehr daran, dass die DDR in der schulischen Erinnerungskultur eher wie ein graues Hintergrundrauschen behandelt wird. Stundenlang wird das Dritte Reich durchgekaut, in epischer Breite, durchaus seiner historischen Bedeutung angemessen. Doch die nachfolgende DDR-Diktatur findet bis auf ein paar Folien, ein paar Stichworte wie Mauer, Mielke oder Mangelwirtschaft in deutschen Schulen kaum statt. Wer so unterrichtet wird, kann kaum verstehen, dass hier nicht nur ein „anderes Deutschland“ war, sondern ein schlimmer Unrechtsstaat, der seinen Bürgern Freiheit, Eigentum und Würde raubte und die Folterhöllen vom „gelben Elend“ bis Hohenschönhausen möglich machte.
So erklärt sich, warum junge Wähler heute die Linke nicht als Nachfolgerin der SED erkennen, sondern als hippe Partei, die in Talkshows mit flotten Sprüchen glänzt, in sozialen Medien die frequentiertesten Memes liefert und mit Versprechungen aus dem Reich des Wolkenkuckucksheims wie Mietendeckel, Enteignung oder Grundeinkommen für alle lockt. Es ist ein Phänomen der politischen Amnesie: Wo das Gedächtnis versagt, setzt die Pose an. Dass die Linke ideologisch noch immer tief im Marxismus verwurzelt ist, fällt dabei kaum ins Gewicht – und das, obwohl der funktionierende Sozialismus historisch wie empirisch längst widerlegt ist.
Die Linke schreibt die Geschichte um
Die Tatsache, dass junge Menschen dennoch in Scharen zur Linken strömen, liegt nicht nur am schlechten Geschichtsunterricht, sondern auch an einem allgemeinen Zeitgeist, der Ideologie vor Realität stellt. Die Linke verkauft sich als Anwältin der kleinen Leute, als Retterin vor Kapitalismus und drohendem Klimakollaps. Dass sie dabei selbst die Erbin einer Partei ist, die Arbeiter und Bauern in Mangel und Repression hielt, geht im Lärm des Zeitgeistes unter.
Was bleibt, ist die vielzitierte Ironie der Geschichte: Eine Partei, die einst die brutalste Grenze Deutschlands errichtete, verkauft sich heute als Kämpferin für grenzenlose Freiheit. Eine Partei, die ihre Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet hat, profitiert von einer Jugend, die diese Vergangenheit nicht mehr kennt. Und Politiker wie Bodo Ramelow können gleichzeitig Grenzöffnungen feiern – also ihren „schönsten Tag“ des Lebens – und Mauertote vergessen machen. Vielleicht ist das die größte Leistung der Linken: Sie hat es geschafft, die Geschichte so umzuschreiben, dass Täter als Opfer und Opfer als Fußnote erscheinen.