Die neue schwarz-rote Koalition unter Bundeskanzler Friedrich Merz hat eine klare Botschaft: Deutschland arbeitet nicht hart genug. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann lieferte in »Caren Miosgas Talkshow« am Sonntagabend eine Kostprobe dieser Denke – und sorgte mit seiner Forderung, Rentner sollten länger arbeiten, für Kopfschütteln. Doch hinter der Provokation steckt mehr. Es handelt sich um ein politisches Programm, das Produktivität über alles stellt, soziale Realitäten ignoriert und kritische Themen wie das Bielefelder Messerattentat lieber ausblendet.

Rentner als Arbeitsreserve: Die „Aktivrente“ als Allheilmittel?
Linnemann hat eine klare Zielgruppe im Visier, und zwar die Rentner. „Zum Beispiel, ja, machen wir es konkret, […] Rentner in Deutschland“, antwortete er auf Miosgas Frage, wer denn zu wenig arbeite.
Bei Caren Miosga bemängelt Carsten Linnemann die Leistungsbereitschaft der Deutschen. Gefragt nach einer spezifischen Zielgruppe, macht der CDU-Generalsekretär dann das Problem aus: die Rentner. Diese müssten künftig zu freiwilliger Arbeit bewegt werden.https://t.co/USniP92fFV pic.twitter.com/symrZSsgSo
— Apollo News (@apollo_news_de) May 26, 2025
Niemand solle gezwungen werden, betonte er, doch die Koalition will Anreize setzen. Kernstück ist die sogenannte Aktivrente: Wer nach Erreichen des Rentenalters freiwillig weiterarbeitet, soll bis zu 2000 Euro monatlich steuerfrei verdienen können. Auch die Hinzuverdienstmöglichkeiten bei der Hinterbliebenenrente sollen verbessert werden. „Zehntausende, vielleicht sogar eine sechsstellige Zahl“ sollen länger im Beruf bleiben, lautet das Ziel.
Die Reaktionen auf 𝕏 waren vernichtend. „Spannend: Von ‚Flüchtlinge zahlen unsere Renten‘ zu ‚Rentner müssen mehr arbeiten‘ hat es nur zehn Jahre gedauert“, spottete die GesternShow, ein Satire-Kanal, angelehnt an die Heute-Show des ÖRR.
Spannend: Von "Flüchtlinge zahlen unsere Renten" zu "Rentner müssen mehr arbeiten" hat es nur zehn Jahre gedauert. #Miosga #Linnemann
— GesternShow (@ShowGestern) May 25, 2025
Gewerkschafterin Christiane Benner, Vorsitzende der IG Metall, brachte die Realität auf den Punkt: Viele Arbeitnehmer, besonders in körperlich anstrengenden Berufen, erreichen schon das reguläre Rentenalter kaum. Sie verstehe diese Debatte nicht, denn sie beleidige die Menschen in diesem Land.
„Wenn ich Beschäftigte beschimpfe, dann kriege ich keine Zuversicht, dann kriege ich Frust und das spielt anderen in die Karten“ – @benner_ch über die von der Union geführten Debatte zur Arbeitsmoral der Deutschen. pic.twitter.com/jasj5IyNw3
— Caren Miosga (@CarenMiosgaTalk) May 25, 2025
»Christiane Benner / Caren Miosga / 𝕏«
Linnemanns Vision ignoriert diese Hürden und setzt auf eine individualisierte Leistungsideologie, die soziale Ungleichheiten ausblendet.
Produktivität über alles: Sind die Deutschen faul?
Die Aktivrente ist nur ein Baustein einer größeren Offensive. Linnemann und Merz werfen den Deutschen kollektiv mangelnde Arbeitsmoral vor. „Die Funktionsfähigkeit unseres Landes beruhe darauf, dass wir produktiv sind“, erklärte Linnemann dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
„Unser Wohlstand, unsere sozialen Sicherungssysteme, aber auch die Funktionsfähigkeit unseres Landes beruhen darauf, dass wir produktiv sind. Und diese Produktivität gilt es zu stärken. Über Anreize wie die Aktivrente oder eine Verbesserung der Rahmenbedingungen wie die Flexibilisierung der Wochenarbeitszeit.“
»Carsten Linnemann / RND«
Work-Life-Balance? Für den CDU-Generalsekretär gleicht sie zunehmend einer „Life-Life-Balance“. Merz, der die Debatte, ob die Deutschen genug arbeiten, in seiner ersten Regierungserklärung anstieß, sekundierte: Eine Vier-Tage-Woche sei mit dem Erhalt des Wohlstands unvereinbar.
„Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance können wir den Wohlstand nicht erhalten.“
»Friedrich Merz / WeLT«
Moritz Schularick, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft Kiel, lieferte akademische Unterstützung. Deutsche arbeiteten „etwa 30 Prozent weniger als unsere polnischen Nachbarn“, behauptete er und folgerte, ein entsprechend höheres BIP sei leicht möglich. Die Abschaffung von Feiertagen, so Schularick, sei ein „sinnvoller Schritt“, um ein „klares Signal“ zu setzen.
„Wenn wir uns die Zahl der Einwohner im erwerbstätigen Alter anschauen, arbeiten wir etwa 30 Prozent weniger als unsere polnischen Nachbarn.“
»Moritz Schularick / ntv«
Benner konterte scharf:
„Wir haben im Moment in Deutschland über eine Milliarde Überstunden, und davon die Hälfte unbezahlt. Daher ist es ein Hohn, zu unterstellen, dass die Menschen nicht bereit sind, mehr zu arbeiten.“
»Christiane Benner / ntv«
Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) reagiert scharf auf die jüngsten Aussagen aus der CDU-Spitze. Wer jahrzehntelang gearbeitet habe und dennoch mit weniger als 1200 Euro Rente auskommen müsse, werde durch solche Vorschläge verhöhnt, heißt es aus der Partei. Anstatt Rentnerinnen und Rentner für wirtschaftliche Probleme verantwortlich zu machen, müsse die Politik endlich ein gerechtes Rentensystem schaffen.
📺 #Miosga #Linnemann #Rentner
— David Schwarzendahl (@dspfalz) May 26, 2025
🧓💬 „Deutsche Rentner arbeiten zu wenig“ – so der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in der ARD-Talkshow mit Caren Miosga. Sein Vorschlag: Steuerfreie Überstunden und ein Steuerfreibetrag von 2000 € für arbeitende Rentner.
💥 Bündnis Sahra… pic.twitter.com/3jXO0gXHbS
Arbeitszeitflexibilisierung: Lösung oder Ablenkung?
Laut »Der Standard« will die Koalition die Produktivität auch durch flexiblere Arbeitszeiten steigern. Der Koalitionsvertrag sieht vor, den Acht-Stunden-Tag durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit zu ersetzen, was besonders für Familien mit Kindern oder mit pflegebedürftigen Angehörigen gedacht ist. Laut Linnemann habe Deutschland hier „einen Rückstand aufzuholen“. Eine »Ipsos-Umfrage« zeigt jedoch gespaltene Meinungen: 46 Prozent befürworten die Änderung, 44 Prozent lehnen sie ab.

Während die Flexibilisierung als familienfreundlich verkauft wird, bleibt unklar, wie sie mit der Forderung nach mehr Arbeitsleistung harmoniert. Linnemanns Appell an junge Menschen, „sich etwas selbst zu erarbeiten“ und eine Ausbildung zu machen, klingt wie ein Rückgriff auf verstaubte Leistungsnarrative, die die Prekarität vieler Berufe ignorieren. Benner forderte stattdessen Investitionen in Bildung und Kitas, um langfristig den Fachkräftemangel zu bekämpfen – ein Punkt, den Linnemann geflissentlich überging.
„Letzteres ist vor allem für Familien mit Kindern oder mit pflegebedürftigen Familienangehörigen von Bedeutung – da haben wir einen Rückstand aufzuholen. Und für junge Menschen gilt: Es ist wichtig, erstmal eine Ausbildung zu machen und einen Beruf zu erlernen. Da müssen wir wieder hinkommen: Sich etwas selbst zu erarbeiten.“
»Carsten Linnemann / RND«
Was nicht thematisiert wird
Ein Seitenblick auf die Sendung zeigt vor allem, was nicht zur Sprache kam. Kein Wort darüber, dass Deutschland bei den Steuer- und Abgabenlasten europaweit an der Spitze liegt. Dass dieses Land zwar offiziell zu den wohlhabendsten gehört, der Wohlstand aber immer seltener bei denen ankommt, die ihn täglich erarbeiten. Kein Hinweis darauf, dass sich immer weniger Menschen ein Eigenheim leisten können und dass steigende Mieten sowie explodierende Lebenshaltungskosten breite Bevölkerungsschichten unter Druck setzen.

Ebenso unerwähnt blieb, dass die Bundesregierung trotz Rekordsteuereinnahmen Milliarden ins Ausland verteilt, statt den aufgeblähten Staatsapparat zu entschlacken und gezielt steuerliche Entlastung zu ermöglichen. Dies wäre ein Schritt, der die Kaufkraft stärken und damit automatisch auch die Binnenwirtschaft ankurbeln würde. Anstelle einer Thematisierung dieser zentralen Probleme wurde im Studio minutenlang über Fußball philosophiert – und das mit einer Ernsthaftigkeit, die für viele wie Hohn wirken muss.

Rente mit 67, 70, 75? Die schleichende Verlängerung
Am Ende ließ Linnemann die Katze aus dem Sack, wenn auch vorsichtig formuliert, denn dass man nun auf die Rente mit 67 zugehe, sei schon mal klar. Perspektivisch müsse bei steigender Lebenserwartung länger gearbeitet werden. Er betonte, niemandem jetzt sagen zu wollen, „ihr müsst bis 70 oder 75 arbeiten“, doch das „nicht jetzt“ klingt wie ein Aufschub, nicht wie ein Dementi. Die Botschaft ist eindeutig: Die Koalition plant, das Rentenalter schleichend zu erhöhen, während sie die Verantwortung auf die Individuen abwälzt.

Die schwarz-rote Produktivitätsoffensive offenbart eine klare Stoßrichtung: mehr Arbeit, weniger Freizeit und längere Berufsjahre für alle, von den Rentnern bis zu den Jungen. Kritische Stimmen wie die von Benner fordern zu Recht Investitionen in Infrastruktur und Respekt für die Lebensrealitäten der Beschäftigten. Doch Linnemann und Merz setzen auf eine Leistungsideologie, die soziale Ungleichheiten ausblendet und die Deutschen pauschal als faul brandmarkt. Die Lebensrealitäten der Menschen bleiben außen vor. Die Debatte zeigt: Anstatt komplexe Probleme anzugehen, setzt die Koalition auf populistische Narrative und individuelle Verantwortung. Ob dies den Wohlstand sichert, bleibt fraglich.