Haintz.Media

HAINTZ

.

media

„Aus dieser Rotte droht Teutschland die größte Gefahr“

Bild:
Quelle:

teilen:

MEHR AUS DER KATEGORIE

Abdul Bari Omar
photo_2023-11-17_15-42-08
Unemployment strike and protest
Unzufriedenheit, Teuerung, inkompetente Politik, allgemeine Gereiztheit prägen Deutschland. Das sind klassische Elemente einer revolutionären Situation. Doch die Vergangenheit lehrt, dass uns zu einer Revolution etwas Entscheidendes fehlt.
ZUSAMMENGEFASST

Die Französische Revolution von 1789 führte zur Beendigung des Zunftzwanges und brachte die Gewerbefreiheit. Sie war für die weitere Entwicklung des Handwerks und des Gewerbes das bedeutsamste und folgenschwerste Freiheitsrecht. Die nicht bedachten Folgen waren eine sogenannte „Handwerkerüber(be-)setzung“, indem zu viele konkurrierende Handwerker ihre Dienste anboten.

In einer Zusammenschau der Ereignisse von 1832 und 1848/49 kann festgehalten werden: Die Gruppe der an den sozialen Rand gedrängten Handwerksgesellen konstituiert sich als bestimmendes gesellschaftlich-politisches Agens. Zu dieser Gruppe sind soziologisch neben den arbeitslosen Handwerksgesellen auch die verarmten Handwerksmeister und frühen Arbeiter zu zählen.

Die vereinfachend als „Handwerksgesellen“ bezeichnete soziale Gruppe rückt in den Fokus staatlicher Repressions-, Verfolgungs- und Überwachungsmaßnahmen, vor allem aufgrund ihrer nicht-bürgerlichen, unsteten, mobilen Lebensweise, dem Gesellenwandern. Die Soziale Frage jener Zeit ist eng verknüpft mit dem Schicksal der Handwerksgesellen. Sie gehörten auch zu der unteren der latenten Zweiklassengesellschaft der bayerischen Pfalz.

LESEN SIE AUCH

Woke oder mächtig? Bernie Sanders in seinem Büro

DILEMMA DER LINKEN

Und dann wird Bernie Sanders nach den Lenape-Indianern gefragt

Beide Klassen „schickten“ ihre Vertreter auf das Hambacher Schloss, um sich zu artikulieren: die Mundwerkenden mit Worten, die Handwerkenden mit Taten. Das Hambacher Fest 1832 wurde von Handwerksgesellen aktiv mitgestaltet und muss auch als ausdrücklicher Handwerkerprotest verstanden werden, z.B. wenn es galt Freiheitsbäume zu errichten.

Die wirtschaftliche Not erzeugte auch eine soziale Krise, diese verstärkte und verbreitete die politische. Die soziale Krise, der Zweifel an der Berechtigung der bestehenden Gesellschaftsordnung, dem krassen Gegensatz einer kleinen Schicht Begüterter zu der Masse Armer, war – wenn auch sehr verhalten – in Hambach 1832 schon angeklungen. So kam es nicht von ungefähr, dass beim großen Zug auf das Hambacher Schloss 1832 die Handwerksgesellen in geschlossener Formation dabei waren.

Die soziale Gruppe der Handwerksgesellen bildete seit dem Ende der Manufakturzeit um 1800 für ein halbes Jahrhundert die tragende politische Bewegung. Ihre prekäre soziale Lage als Folge der Mechanisierung und Technisierung seit der Frühindustrialisierung machte sie empfänglich für das Revolutionsgeschehen jener Zeit, die in den Ereignissen von 1832 und 1848/49 ihre Höhepunkte erlebte.

LESEN SIE AUCH

Harry Meghan Slavoj Zizek Kapitalismuskritik

GESCHÄFTE MIT DEM GEWISSEN

Wenn die Kapitalismuskritik von Kapitalisten kommt

Zwischen 1832 und 1849 ist eine Phase der Revolutionierung und Militarisierung der Handwerksgesellen. Ihr Schicksal kann europaweit nachverfolgt werden. Die Revolutionsarmee der „Märzrevolution“ 1849 rekrutierte sich in der überwiegenden Mehrzahl aus kampfwilligen Handwerksgesellen. Dies allein belegen die Namen mit Berufsangaben der getöteten „Freischärler“.

Es war eine vielfach gehegte Meinung, dass das traditionelle Gewerbe, das Handwerk, im Wandel der Produktionsformen des 19. Jahrhunderts untergehen werde. Karl Marx und Friedrich Engels prognostizierten im „Kommunistischen Manifest“ vom Februar 1848 die notwendige Verelendung und Proletarisierung der Handwerksmeister und Gesellen im unabänderlichen Konzentrationsprozess der kapitalistischen Produktion.

Auch bürgerliche Sozialtheoretiker um die Jahrhundertwende neigten noch zu dieser Annahme. Gleichwohl ist sie nicht eingetroffen. Die Revolution von 1848/49 hat den Weg zur privatkapitalistischen Industrialisierung weiter geöffnet, allerdings, ohne dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der breiten Bevölkerung verbessert hätten.

Der „Communismus“ und seine wärmsten Anhänger

Der Priester Adolph Kolping (1813-1865), selbst ehemals ein Schuhmachergeselle, veröffentlicht 1849 die Schrift „Der Gesellenverein, zur Beherzigung für alle, die es mit dem wahren Volkswohl gut meinen“. Die früheren katholischen Gesellenhäuser wurden später in Kolpinghäuser umbenannt.

Als „Vater“ der evangelischen Gesellenvereine gilt der Pfarrer Johann Hinrich Wichern (1808-1881) mit seiner Schrift vom Wittenberger Kirchentag vom 23. September 1848 über die „Geistige, charakterliche Bewältigung des Handwerkerschicksals“. Wichern sah in der Revolution des Jahres 1848 die Folge des sozialen Elends, des Versagens kirchlicher Verkündigung und Seelsorge. Er grenzte sich aber von Karl Marx’ These ab, die Umstände (d.h. die Ausbeuterordnung) allein seien hauptverantwortlich für alles Elend.

Ein in jeglicher Hinsicht bezeichnendes Bild entwirft ein Autor, der sich am Wettbewerb des bayerischen Königs Maximillian II. von Bayern 1850 an dessen akademischer Preisfrage, „Durch welche Mittel kann der materiellen Noth der untern Klassen der Bevölkerung Deutschlands insonderheit Bayerns am zweckmäßigsten und nachhaltigsten abgeholfen werden?“, mit einer denunziatorischen Kampfschrift beteiligt hatte.

Diese war vornehmlich gegen die politisch radikalisierten, wandernden Handwerksgesellen gerichtet: „Daß der Communismus unter ihnen seine wärmsten Anhänger und eifrigsten Verfechter hat, wird wohl ohne besondre Versicherung geglaubt werden. Eine genaue Untersuchung würde zweifellos herausstellen, daß sie zu den früheren Einfällen von Hecker und Struve in Baden, dann zu dem Frankfurter Attentate [der Wachensturm vom 3. April 1833], zu den Aufständen in Wien und Berlin, besonders aber zu den beklagenswerthen Aufstandsversuchen in Baden und in der Pfalz ein zahlreiches Contingent gestellt haben. Das leibliche und geistige Elend dieser Unglücklichen ist fast größer, als daß die Hand des Retters sie noch zu erreichen vermag; allein aufgegeben dürfen sie nicht werden – wir müßten denn uns selber aufgeben wollen; denn aus dieser Rotte droht Teutschland die größte Gefahr.“

LESEN SIE AUCH

Police escorts Prince Heinrich XIII P. R. in this screen grab from Reuters TV, after 25 suspected members and supporters of a far-right group were detained during raids across Germany, in Frankfurt, Germany December 7, 2022. Tilman Blasshofer/Reuters TV via REUTERS

„REICHSBÜRGER“-RAZZIA

Stellen wir uns Tag 1 nach der Machtübernahme doch einmal vor

Über die Lebensverhältnisse des 4. Standes, die Arbeiter, heißt es in einer Zeitung aus dem Revolutionsjahr 1849: „Der Lohn stieg aber nicht in diesem Verhältnis (wie die Preise) weil die Arbeitsherren wußten, daß sie für einen Ausgetretenen zehn andere bekommen konnten um den alten Lohn, d.h., weil die Concurrenz der Arbeiter zu groß war; sie bezogen also den alten Lohn bei dreifachen Preisen der Lebensmittel, sie waren dem Hunger preisgegeben und an die Mildthätigkeit ihrer Mitbürger angewiesen“.

Die gleiche Quelle berichtet über die Lebensverhältnisse der Handwerker: „Betrachtet in den Städten den Handwerksmann, betrachtet auf dem Lande den Ackersmann, der nicht zu den ‚reichen Bauern‘ gehört, und ihr werdet sie beide in sehr herabgekommener Lage finden […] Dem Handwerksmanne verkümmern die tausendfältig angebotenen, um die Hälfte wohlfeileren Fabrikerzeugnisse seinen mäßigen Erwerb, und ehe er sich umsieht, wachsen ihm die Schulden über den Kopf“.

Die Historiografie hat bislang kaum die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen berücksichtigt und das revolutionär-politische Geschehen aus den prekären Lebensumständen der Bevölkerung heraus reflektiert. Die politisch-revolutionären Ereignisse von 1832 und 1848/49 erfolgten jeweils nach einem extremen Hunger- und Teuerungsjahr – Hunger als Auslöser für eine revolutionäre Volksbewegung wie schon anno 1789:

„Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ Dieser Marie Antoinette als verächtliche Reaktion bei der Erstürmung der Bastille 1789 durch aufgebrachte Pariser in den Mund gelegte Satz, wurde zum Sinnbild für das Unverständnis gesellschaftlicher Eliten gegenüber den sozialen Problemen der Zeit.

Hunger und Hunger nach Freiheit

Daraus lässt sich die Hypothese über den Hunger als politischer Katalysator ableiten: Mit Maßnahmen des bayerischen Staates zur Lebensmittelgrundversorgung der Bevölkerung wäre es nicht zu den Ereignissen von 1832 und 1848/49 gekommen! Das Hambacher Schloss wurde zwar nicht zur deutschen Bastille, wenngleich die auslösenden Begleitumstände die gleichen waren: ungestillter Hunger und der Hunger nach Freiheit!

Die Erleidung des Hungers betraf am wenigsten das Bildungs- und Besitzbürgertum unter den Protagonisten des Hambacher Festes. Sie konnten es sich leisten, mit vollem Magen und Munde politische Freiheitsrechte einzufordern und über ein supranationales Konstrukt wie ein geeintes Europa zu diskutieren. Ihnen war eher an der Zementierung des sozialen und ökonomischen Status quo gelegen, indem man diesen erst gar nicht thematisierte, während es bei dem anderen Bevölkerungsteil unausgesprochen um das physische Überleben, die nackte Existenz des einzelnen Menschen ging.

So verdichtet sich der Eindruck, als wären Inhalt, Verlauf und zeitgenössische Darstellung des Hambacher Festes das Produkt einer Zweiklassengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Aus der prekären sozialen Lage der einfachen Menschen jener Zeit ergab sich die Soziale Frage als politische Aufgabe, die sich aber der politischen und geistigen Elite überhaupt nicht und diese wiederum sich auch deren Bewältigung nicht stellte. Die politische und geistige Elite blieb in Worten und Taten eine generelle Antwort auf die Soziale Frage schuldig, die im Kern bis heute besteht.

teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert