„Analysten sind wie Meteorologen“, ätzte einmal ein namhafter russischer Milliardär im Gespräch mit WELT: „Sie irren nur einmal. Aber das täglich.“ Zumindest was den Ölmarkt angeht, lässt sich das den Prognostikern derzeit jedoch schwer vorwerfen.
Zu viel ist durcheinandergeraten, seit die Europäische Union am 5. Dezember des vergangenen Jahres ein Ölembargo gegen Russland verhängt und gemeinsam mit den G7-Staaten und Australien einen Preisdeckel von 60 Dollar für den Export russischen Öls in andere Länder verfügt hat. Zu sehr auch befindet sich der Markt im Umbruch, als dass Daten weiter vollauf transparent für die Berechnungssysteme bereitgestellt würden und diese selbst mit den Veränderungen mithalten könnten.
Fest steht zum einen, dass das Embargo mit dem geschickt kombinierten Preisdeckel ganz im Sinne seiner Erfinder war. Und es hat anders, als das in den vergangenen eineinhalb Jahren aus anderen Gründen beim Gas der Fall gewesen war, zu keinem Angebotsdefizit inklusive Preisexplosion geführt.
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Zudem lässt sich feststellen, dass Russland aus dieser Sanktion sehr wohl Einbußen erwachsen. Putins Reich müsse sein Öl der Hauptsorte Urals nun für ganze 40 Dollar je Barrel verkaufen, während die europäische Sorte 80 Dollar koste, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Ende Januar. Selbst das russische Finanzministerium nannte für die Spanne von Mitte Januar bis Mitte Februar einen Preis für Urals von im Schnitt 47 Dollar.
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Da dieser sogar weit unterhalb des Preisdeckels liegt, wird Russland seine Förderung um 500.000 Barrel pro Tag bzw. fünf Prozent des Outputs aus dem Januar drosseln und will so den Preis treiben, nachdem es zuletzt auf ein Förderniveau wie vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs zurückgekehrt war.
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Aufgrund der Skepsis gegenüber dem russischen Angebot angesichts einer weiteren Belebung der Nachfrage in China sei der Markt spürbar angespannt, schrieb die Commerzbank in einer aktuellen Analyse: „Aktuell ist der Ölmarkt hin- und hergerissen von sich plötzlich ändernden Einschätzungen der Marktteilnehmer zu Angebot und Nachfrage. Entsprechend schwankt der Brentölpreis seit Jahresbeginn in einer Handelsspanne zwischen knapp unter 80 und beinahe 90 Dollar je Barrel. Im Fokus stehen dabei das Ölangebot aus Russland und die Ölnachfrage in China.“
Gerade Zahlen zum russischen Angebot verblüffen den Markt stets aufs Neue. Wie die Agentur Bloomberg gerade mitteilte, habe Russland in den sieben Tagen bis 24. Februar täglich 3,63 Millionen Barrel seewärtig exportiert – fast ein Rekord seit Beginn des Ukraine-Krieges. Da der wichtigste Schwarzmeerhafen Noworossijsk fast die ganze Woche sturmbedingt geschlossen war, sei wohl alles über die Häfen im Osten kompensiert worden. Ohnehin hat Russland seine Exportströme weg von seinem vorherigen Hauptabnehmer Europa nach Indien und China umgelenkt, wovon ersteres Land nun zwei Millionen Barrel pro Tag und Peking eine Million kauft.
Dass China dafür fast so viel zahlt wie für die europäische Sorte Brent und Russland damit gut verdient, verwundert den Markt nicht und erklärt sich daraus, dass China vorwiegend die ohnehin teurere ostrussische Sorte ESPO – über eine Pipeline – kauft. Dass aber auch Indien für die eigentlich billigere Sorte Urals weitaus tiefer in die Tasche greifen muss als bislang kolportiert, haben zuletzt gleich mehrere Experten ans Licht gebracht.

Im Dezember jedenfalls habe Indien für russisches Öl fast gleich viel gezahlt wie an andere Lieferanten, erklärte Sergej Vakulenko, Ex-Strategiechef des Ölkonzerns Gazprom Neft und heute internationaler Energieberater, neulich in einem Interview. Vakulenkos Angaben basieren auf den Daten des indischen Zollamtes, das auch für März bis November 2022 kaum Abschläge gegenüber Brent ausweise, obwohl medial immer von hohen Preisnachlässen die Rede gewesen sei. Der Preisabschlag gegenüber Brent habe nicht mehr als sechs bis zehn Dollar je Barrel betragen.
Zu einem ähnlichen Befund seit Embargo-Beginn kamen in der Vorwoche Ökonomen einiger westlicher Forschungszentren, darunter der University of California, weshalb sie den G-7-Staaten raten, den Preisdeckel auf ihrer nächsten Sitzung von 60 Dollar je Barrel künftig auf 35 Dollar zu senken.
Eigentlich bedürfte es keiner weiteren Sanktion gegen den russischen Staat
Dabei bedürfte es gar keiner weiteren Sanktion gegen den russischen Staat: Der unerwartet höhere Preis, den Staaten wie Indien zuletzt für russisches Öl zahlten, fließt nämlich nicht dem russischen Staat zu, sondern jenen oft in Dubai registrierten Tradern und Reedereien, die nun einen Großteil des Öls exportieren und oft mit russischen Ölkonzernen verbunden sind. Sie seien daran interessiert, den Schein eines niedrigen Preises zu wahren, zu dem sie das Öl in russischen Häfen verladen, schreibt Vakulenko in einer Analyse: So verringerten ihre russischen Konzernmütter ihre Steuerlast in Russland. Und gleichzeitig schaffe ein überhöhter Aufpreis auf Transport und Versicherung gute Einkünfte, ohne die Sanktionen zu verletzen.
Der russische Staat habe das Schema inzwischen sehr wohl erkannt und werde daher ab Juni die Besteuerung seiner Ölkonzerne auf Basis des höheren Brentpreises vornehmen, erklärt der Moskauer Energieberater Michail Krutichin im Gespräch mit der WELT. Denn bisher habe er diese nach dem günstigen Uralspreis vorgenommen, der von globalen Agenturen wie Argus berechnet wird. Diese aber hinkten den neuen Realitäten ebenso hinterher und würden daher mit ihren Berechnungsmethoden das Bild entstellen.